Bestandsbauten gegen Wohnungs- und Klimanotstand mobilisieren
„Deutschland hat kein Wohnraumproblem, vielmehr wird komplett am Bedarf vorbei gebaut“, analysiert Risikoexperte und Mathematiker Andreas Beck von Index Capital. „Bauen wir 400.000 neue Wohnungen pro Jahr, dann stehen die eben in 30 Jahren alle leer, weil die geburtenstarken Jahrgänge wegsterben.“ [1] Im Jahre 2055 haben wir laut Statistischem Bundesamt ca. 10 Mio. Einwohner weniger. Ganz zu schweigen von der Vorstellung 1 Mio. Syrer plus 1 Mio. Ukrainer würden bald in ihr befriedetes Heimatland zurückkehren. Dieser Wandel würde zu massivem Leerstand führen. Ist es da nicht besser, erst einmal den Bestand zu mobilisieren?
Aktuell verhindern hohe Boden- und Neubaupreise sowie ineffiziente Nutzung des Bestands eine gute Wohnraumversorgung in den Metropolen. Baulandpreise sind in den letzten 20 Jahren um 150–200 % gestiegen, während sich die Baukosten in 25 Jahren verdoppelt haben. Alle Neubauziele der beiden letzten Regierungen scheiterten an hohen Kosten, bürokratischer Überregulierung, Fachkräftemangel und Materialknappheit. Die Anzahl der Sozialwohnungen ist gleichzeitig von 2,5 Mio. auf 800.000 gesunken. So steht nicht nur Berlin gerade an einem sozialen Kipppunkt: Angebotsmieten von 20 €/m² in der Innenstadt können sich junge Familien, Mittel- und Geringverdiener nicht leisten. Günstiger Wohnraum wird dringend benötigt, doch neu gebaut wird überwiegend im Luxus-Segment, an der Nachfrage vorbei.
Viele ältere Menschen vereinsamen in großen, unsanierten Häusern am Stadtrand auf großen Grundstücken, während junge Familien nach bezahlbaren Immobilien suchen. Viele ältere Menschen möchten in ihrem Viertel bleiben. Doch die großen Häuser werden zur Last, auch deren Pflege und die Sanierung kosten viel Geld. Durch An- und Aufbauten könnten Einfamilienhäuser zu Mehrfamilienhäusern umgebaut und damit die Flächeneffizienz erhöht werden. Großflächige Siedlungen der 1970er-Jahre könnten mit Ergänzungsbauten nachverdichtet und damit das teure Bauland optimiert werden. Der Wohnwendeökonom Dr. Daniel Fuhrhop hat festgestellt, dass sich nur so alleine 100.000 Wohnungen pro Jahr mobilisieren lassen. [2]
Die Suffizienzeffekte sind vielfältig: Häuser werden energetisch und altersgerecht saniert, was die CO₂-Emissionen, den Rohstoff- und Energieverbrauch im Vergleich zu Abriss und Neubau um ca. 50 % senkt. An- und Aufbauten schaffen zusätzliche Wohneinheiten und fördern die soziale Gemeinschaft. Dies trägt gleichzeitig dazu bei, die jährlichen Bauabfälle von 219 Mio. t [1] zu halbieren.
Eine weitere Lösung könnte sein, den Wohnraum pro Person von 47 auf 40 m² zu reduzieren. „Dies entspricht etwa sechs Millionen neuer Wohnungen“, erklärt der Experte Beck, und kann vorwiegend durch gemeinschaftlich genutzte Wohnformen realisiert werden.
Doch es gibt erhebliche rechtliche und erbrechtliche Hürden, die Um- und Auf- oder Anbauten erschweren. Bebauungspläne und Erbschafts- sowie Einkommenssteuern müssten reformiert werden. Dauer-Leerstand darf z.B. nicht mehr steuerlich abzugsfähig sein. Spekulative Gründe sollten durch die kommunale Zweckentfremdungssatzung eingedämmt werden.
„Abbruch und Neubau darf sich nicht mehr lohnen“ [3] – spätestens dann, wenn der Abbruch in der LCA-Analyse eingewertet werden muss. Aktuell ist die energetische Sanierung im Bestand günstiger als Neubau und spart ca. 50 % „graue Energie“, die in der Regel im Rohbau enthalten ist. Die UMBauplanung ist jedoch wesentlich aufwendiger und nur wenige Architekten haben Erfahrung mit Bauen im Bestand. Historisch gewachsene Strukturen werden so bewahrt, nachverdichtet und soziale Aspekte verbessert.
Es ist essenziell, Gebäude zu erhalten, Ressourcen wiederzuverwenden und ökologisch nachhaltigen Wohnraum zu schaffen. So fordert auch HouseEurope!, die Europäische Bürgerinitiative für neue EU-Gesetze, Sanierungen und Umbauten einfacher, günstiger und sozialer zu machen. „Denn der Abriss bestehender Gebäude ist genauso überholt wie Lebensmittelverschwendung, Tierversuche und Einwegplastik.“ [4]
Literatur
- Höß, A. (2025) Experte über Fehlanreize am Immobilienmarkt: „Am Bedarf vorbeigebaut“[online]. München: Münchener Zeitungs-Verlag. www.merkur.de/wirtschaft/mieten-experte-fehlanreize-am-immobilienmarkt-wohnraum-babyboomer-preise-aktuell-92150360.html [Zugriff am: 10. Jun. 2025]
- Fuhrhop, D. (2023) Der unsichtbare Wohnraum. Bielefeld: transcript.
- Architects 4 Future (2025) Homepage[online]. Bremen: Architects for Future Deutschland e.V. www.architects4future.de [Zugriff am 10. Jun. 2025]
- European Union (2025) HouseEurope! Power to Renovation[online]. https://citizens-initiative.europa.eu/initiatives/details/2025/000001 [Zugriff am: 10. Jun. 2025]
Autor:in
Dipl. Ing./M. Sc. real estate Ulla Basqué
Basqué Et Partner, Regensburg
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für Architects4Future Deutschland e.V.
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