Wie lange können wir noch auf Leuchttürme warten?
Leuchttürme haben eine faszinierende Eigenschaft: Sie stehen meist einsam und erhaben an den Küsten, weithin sichtbar, und weisen Schiffen den sicheren Weg. Doch was passiert, wenn nur ein einziger Leuchtturm an einer gefährlichen Küstenstraße steht, während ringsum Dutzende von Schiffen in der Dunkelheit navigieren müssen? Die Antwort ist so einfach wie beunruhigend: Es wird unweigerlich zu Katastrophen kommen.
Genau in dieser Situation befindet sich der deutsche Infrastrukturbau heute. Während die Hamburger Hochbahn mit ihrem U5-Projekt als einsamer Leuchtturm für nachhaltiges Bauen strahlt, tappen unzählige andere Großprojekte noch immer im Dunkel konventioneller Baupraktiken. „Wir bezeichnen unser Projekt als Leuchtturmprojekt und quasi Impulsgeber für genau diese [nachhaltige] Art zu bauen“, erklärte mir Nastassja Linzmair, Teilprojektleiterin der U5, in meinem Podcast Tiefgründig. Eine mutige Aussage, die eine unbequeme Frage aufwirft: Warum ist die U5 in Hamburg eigentlich das einzige Infrastrukturprojekt in Deutschland mit einer durchdachten Nachhaltigkeitsstrategie?
Ein Leuchtturm inmitten der Dunkelheit
Die Zahlen der U5 sind beeindruckend und ernüchternd zugleich. Bei konventionellem Bau würde das 24-km-Projekt rund 2,7 Mio. t CO2e verursachen. Das ist etwa so viel, wie wenn eine Person eine Million Mal von Frankfurt am Main nach New York City fliegt und wieder zurück [1]. Doch anstatt diese Realität zu akzeptieren, entwickelte die Hochbahn eine Roadmap mit dem klaren Ziel, das Projekt mit 70 % weniger Emissionen zu realisieren.
Dabei wird weder auf utopische Zukunftstechnologien noch auf risikobehaftete Experimente gesetzt. Alles, was die U5 nutzt, ist zugelassen und in DIN-Normen oder anderen Regelwerken definiert. Möglich wird die Emissionsreduktion durch 100 % Ökostrom, klinkerarme Zemente, optimierte Zementanteile und ab 2025 CO2e-reduzierten Stahl. Ab 2028 dann auch Zemente mit anteiliger CO2e-Abscheidung und ab 2035 sogar mit 100%iger Abscheidung durch grünen Wasserstoff.
Das Bemerkenswerte dabei: Die Industrie kann liefern. Die Lösungen existieren bereits. Es herrscht ein Henne-Ei-Prinzip zwischen Nachfrage und Angebot. Die Industrie ist auf die Nachfrage der öffentlichen Auftraggeber angewiesen, und wenn öffentliche Auftraggeber wie die Hamburger Hochbahn den Mut haben, nachhaltige Materialien zu fordern, reagiert der Markt auch entsprechend.
Die Vergabepraxis als Schlüssel
Anstatt sich hinter vermeintlichen rechtlichen Hürden zu verstecken, wurde die Ausschreibung genutzt, um bestimmte Vorgaben zu machen, etwa hinsichtlich des Maximalgehalts für Klinkeranteile, ohne den Markt dabei einzuengen. Eine wirkungsvolle Steuerung durch klare Anforderungen.
Doch hier liegt auch der Kern des Problems: Was in Hamburg funktioniert, müsste überall funktionieren. Das Vergaberecht ist bundesweit identisch, die Industriekapazitäten sind vorhanden, die Technologien erprobt. Warum folgen andere Projekte diesem Vorbild also nicht längst?
Das Zeitfenster schließt sich
Die Dramatik der Situation wird deutlich, wenn man die Zeitschiene betrachtet. Die U5 soll bis 2040 fertiggestellt werden, der erste Bauabschnitt geht 2033 in Betrieb. Projekte, die wir heute planen, werden erst in zehn bis fünfzehn Jahren realisiert. Je später das Thema Nachhaltigkeit in die Planung integriert wird, desto größer der Aufwand und desto mehr Potenziale zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung bleiben ungenutzt.
Der Klimawandel ist Fakt, und die Hamburger Hochbahn sieht sich in der Pflicht, den Einfluss ihres Großprojekts zu nutzen. Eine Pflicht, die eigentlich jeder Bauherr haben sollte, egal ob Straßen-, Schienen-, Brücken- oder Tunnelbau.
Ein Appell an die Verantwortung
Als „Neuland mit bereits vorhandenem Potenzial“ beschrieb Nastassja Linzmair die Situation der Nachhaltigkeit im Tiefbau. Das bestätigt auch die internationale Auszeichnung der U5 als Pionier für klimaschonenden Bau durch die International Construction Project Management Association. Die Botschaft an alle Infrastrukturplaner, öffentliche Auftraggeber und Entscheidungsträger ist klar: Macht es nach!
So wie der Leuchtturm Schiffen jahrhundertelang den Weg durch die Elbmündung wies, strahlt heute die U5. Ihren Zweck erfüllt sie aber nur dann, wenn andere ihrem Signal folgen. Es ist höchste Zeit, dass die gesamte Branche Kurs auf dieses Licht nimmt.
Das vollständige Gespräch mit Nastassja Linzmair über die Nachhaltigkeitsstrategie der U5 können Sie in Folge 3 meines Podcasts Tiefgründig nachhören.
Literatur
- Umweltbundesamt (2025) Flugreisen möglichst vermeiden und Alternativen nutzen [online]. Dessau-Roßlau: UBA, 10.06.2025. https://www.umweltbundesamt.de/umwelttipps-fuer-den-alltag/mobilitaet/flugreisen#hintergrund
Autor:in
Isabelle Armani, podcast@tiefgruendig.com
Podcasterin, Brandenburg an der Havel
www.tiefgruendig.com