Wir stecken mitten in einer Baukrise, die wir so schnell wie möglich überwinden müssen. Bauen muss sich wieder lohnen – ökologisch und wirtschaftlich. Für mich steht fest: Wir schaffen das nur, wenn wir bezahlbares, zukunftsfähiges Wohnen und ressourceneffizientes, klimaverträgliches Bauen zusammenbringen.
Für mehr Ökologie und Klimaschutz im Bauwesen müssen wir neben dem Betrieb auch die Errichtung, die Instandhaltung und den Rückbau von Gebäuden in den Blick nehmen. Ein Schlüssel ist dabei das Etablieren einer echten Kreislaufwirtschaft beim Bauen. Besonders effektiv ist es, bereits vorhandene Bauteile als Ganzes erneut zu verwenden.
In dieser Wiederverwendung ganzer Bauteile sehen wir eine große Chance, Ressourcen zu schonen, den Klimaschutz im Bauwesen zu stärken und die Baukosten zu dämpfen. Dabei erkennen wir jedoch neben rechtlichen, wirtschaftlichen und logistischen Herausforderungen eine hohe technische Hürde: Das Fehlen von Normen für gebrauchte Bauteile trägt wesentlich dazu bei, dass in der Praxis bislang kaum Bauteile wiederverwendet werden. Deshalb haben wir ein Forschungsprojekt zur Erarbeitung der technischen Grundlagen für die Wiederverwendung tragender Stahl- und Holzbauteile „initiiert und beauftragt.“
Die Ergebnisse liegen nun in Form eines praxisorientierten Leitfadens vor (Bild 1). Er ist bewusst so gestaltet, dass er direkt in der Praxis angewendet werden kann. Er beantwortet zentrale technische Fragen und bietet Schritt-für-Schritt-Anleitungen – von der Bestandsanalyse über den schonenden Rückbau bis hin zur Untersuchung, Bewertung und Aufbereitung gebrauchter Bauteile. Damit ebnet er den Weg für die Wiederverwendung von Bauteilen und schafft wesentliche Hürden in der Praxis ab.
Der Leitfaden ermöglicht es, das enorme Potenzial im Bauwesen systematisch und sicher zu nutzen. Das gilt insbesondere für tragende Bauteile, die ursprünglich nicht für den Rückbau vorgesehen waren. Denn jedes wiederverwendete Bauteil spart Ressourcen und reduziert die Treibhausgasemissionen beim Neubau. Dies wird mittelfristig auch die Baukosten dämpfen und gleichzeitig Innovationen fördern: Denn neue Verfahren für Rückbau, Aufbereitung und Qualitätssicherung schaffen technische und wirtschaftliche Potenziale. Das eröffnet neue Geschäftsfelder und Arbeitsplätze, die den Wandel in der Baubranche positiv unterstützen.
Derzeit ist in der Regel für jede Wiederverwendung bauordnungsrechtlich eine Zustimmung im Einzelfall nötig. Unser Ziel ist eine technische Normierung, die den Prozess standardisiert, vereinfacht und damit wirtschaftlicher macht. Hierfür bilden strukturierte Vorgehensweisen wie der Leitfaden und die Praxiserfahrungen aus seiner Anwendung die gemeinsame Basis.
Der Leitfaden ist damit mehr als nur ein technisches Dokument. Er ist echte Pionierarbeit für das Bauwesen und sendet ein starkes Signal an alle am Bau Beteiligten, die Wiederverwendung von Bauteilen als Standard zu etablieren.
Doch unser Engagement endet nicht bei Holz und Stahl. Ein Folgeprojekt zur Wiederverwendung tragender Betonbauteile ist bereits gestartet. Die Ergebnisse werden voraussichtlich im Jahr 2026 in den Leitfaden integriert und erweitern damit unser Werkzeug für ressourcenschonendes und klimaverträgliches Bauen. Forschungsprojekte wie dieses sind die Bausteine der Bauwende.
Ich lade alle Akteure ein, diesen Weg gemeinsam mit uns zu gehen. Nur durch Zusammenarbeit und Innovationsbereitschaft können wir die dringend notwendige Transformation im Bauwesen erreichen. Unser Ziel ist klar: eine Bauwirtschaft, die Ressourcen schont, Treibhausgasemissionen reduziert und gleichzeitig wirtschaftlich stark und innovativ bleibt. Der Leitfaden ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass Bauteile nicht mehr nur recycelt oder deponiert werden, sondern durch ihre Wiederverwendung neuen Wert für unsere Bauprojekte, unsere Umwelt und unsere Gesellschaft entfalten.
Autorin
Nicole Razavi MdL, poststelle@mlw.bwl.de
Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen des Landes Baden-Württemberg
bauministerium-bw.de