Von der grauen Energie zur goldenen Energie

Baukulturbericht 2022/23 Neue Umbaukultur erschienen

Alle zwei Jahre legt die Bundesstiftung Baukultur der Bundesregierung einen Bericht zum Stand der Baukultur in Deutschland vor. In dem Wissen, dass die Routinen fortwährender Abrisse und Neubauten keine Antworten auf die Fragen der Gegenwart bieten kann, ist der Bericht 2022/23 einer neuen Umbaukultur gewidmet. Angesichts neuer ökologischer und ökonomischer Herausforderungen, aber auch im Hinblick auf soziale und kulturelle Bedürfnisse thematisiert der Bericht die Umgestaltung von Stadt und Land, die Transformation von Gebäuden und Infrastrukturen sowie die Anpassung von Rahmenbedingungen und Prozessabläufen.

Die Folgen des Klimawandels und die dringend nötige Schadensbegrenzung stellen die größten Herausforderungen der Gegenwart dar. Im Fokus standen dabei bisher die Industrie, der Straßen- und Flugverkehr, die Landwirtschaft, die Heizung, Kühlung und Lichtversorgung von Gebäuden und nicht zuletzt Plastiktüten und der Coffee to go. Dass der gesamte Bausektor größere Potenziale zur Emissionsminderung leistet, wurde kaum thematisiert. Dabei ist der Bau- und Gebäudesektor wesentlich für den Klimawandel: Laut dem United Nations Environment Programme (UNEP) verursacht er 47 % der weltweiten energiebedingten CO2-Emissionen. Ein Forschungsteam um den Bauingenieur und Architekten Werner Sobek konnte sogar mehr als die Hälfte der weltweit freigesetzten Treibhausgase auf die Bauwirtschaft zurückführen, indem es auch die Emissionen berücksichtigte, die durch Bauvorhaben entstehen, sonst aber den Sektoren Mobilität, Industrie und Energie zugeordnet werden.

Ein achtsamer Umgang mit dem Bestand könnte wesentlich dazu beitragen, die Situation zu entschärfen. Bislang wurde insbesondere der ältere Gebäudebestand in diesem Zusammenhang kritisch beurteilt, da der Fokus auf einer Energieeffizienz im Betrieb lag – also v. a. auf dem Heiz- und Kühlbedarf. Hochgedämmte und technisch hochgerüstete Neubauten schienen darum klimafreundlicher als Bestandsgebäude. Relevant für den Klimaschutz sind jedoch die klimaschädlichen Emissionen – und die fallen nicht nur in der Nutzung, sondern auch bei der Errichtung und beim Abriss eines Bauwerks an.

Eine Studie, die das Wuppertal Institut 2022 für die Bundesstiftung Baukultur angefertigt hat, zeigt auf, dass nur ein geringer Teil der Emissionen auf den Betrieb zurückgeht: Bei einem 2020 gebauten massiven Einfamilienhaus im Standard EH (Effizienzhaus) 40 machen die CO2-Emissionen während der Nutzung bis zum Jahr 2050 weniger als 8 % aus. Mit über 90 % kommt es zu den meisten Emissionen während der Herstellung der Baustoffe, durch Transportwege und in der Bauphase. Ein auf den gleichen Energieeffizienzstandard saniertes Bestandsgebäude verursacht dagegen nur ein Drittel der Emissionen eines Neubaus. Selbst beim niedrigeren Standard EH 85 sind es nur 40 % der Emissionen. Ein Haus für einen energieeffizienteren Neubau abzureißen, ist damit aus Klimagründen weniger sinnvoll, als es zu erhalten und umzubauen. Nur mit einer klugen Umbaukultur, die die graue Energie oder vielmehr die grauen Emissionen existierender Bauten nutzt und beim Weiterbauen auf den ökologischen Fußabdruck der verwendeten Materialien achtet, ist im Bauwesen eine Nachhaltigkeit zu erreichen, die den Klima- und Umweltschutzzielen gerecht wird.

Vorerst aber wird überwiegend neu gebaut. Allein 2020 sind 137.245 Gebäude entstanden. Die meisten davon, nämlich 97.510, waren Ein- und Zweifamilienhäuser. Mit ihrer Zahl sind auch die Siedlungs- und Verkehrsflächen angewachsen: Tag für Tag werden 54 ha Wald und Landwirtschaftsflächen umgewidmet. Das Ziel, die planerische Flächeninanspruchnahme bis 2020 auf 30 ha zu begrenzen, wurde damit weit verfehlt. Zugleich hat kein anderer Wirtschaftszweig einen so hohen Rohstoffverbrauch wie die Bauindustrie. In Deutschland werden mit jährlich 517 Mio. t 90 % des hiesigen mineralischen Rohstoffabbaus in Gebäuden verbaut. Gleichzeitig wurden laut Statistischem Bundesamt in Deutschland 2020 rd. 8400 Gebäude abgerissen. Dabei wird nur ein Teil der tatsächlich erfolgten Abrisse erfasst, da in Deutschland Gebäude bestimmter Bauart oder bis zu einer gewissen Größe von einer Beseitigungsanzeige befreit sind. Die tatsächliche Anzahl dürfte deshalb erheblich höher liegen.

An der Wahrung des Bestands und seiner Ertüchtigung führt also kein Weg vorbei. Bislang allerdings sind Ausbildung, Gesetzgebung und Praxis des Bausektors überwiegend auf den Neubau ausgerichtet. Auch viele Geschäftsmodelle der Immobilien- und Bauwirtschaft lassen im Neubau größere Gewinne zu. Das erschwert das Umbauen und führt zu mehr bürokratischem Aufwand. Heute ist es Zeit umzudenken: Suffizienz sollte nicht als Verzicht gesehen werden, sondern als Qualität. Verantwortungsvolles Bauen beginnt bei der Bedarfsplanung, nimmt Betrieb und Instandhaltung gedanklich vorweg und sorgt für Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit und Langlebigkeit gehen Hand in Hand – und sind die Leitbilder einer neuen Umbaukultur. Letztlich steckt in Bestandsgebäuden noch viel mehr als graue Energie und graue Emissionen: In Zeiten des Umbruchs kann eine neue Umbaukultur für Kontinuität sorgen. Sie erhält Ortstypisches und trägt zu Vielfalt und Komplexität der Quartiere bei. Allerdings bietet sie keine schlüsselfertigen Produkte, sondern verlangt von allen, die planen und bauen, Fantasie und kreative Kompetenz. Jeder Ort und jedes Gebäude hat seine eigene Geschichte, die mit den Biografien der Menschen verwoben ist, die dort gewohnt, gearbeitet, gelernt, geliebt, gespielt, gefeiert haben. Eine qualitätvolle Umbaukultur trägt diese Biografien und Geschichten weiter und reichert sie mit neuen an. Das Bauwerk selbst hat oft aus seiner Zeit heraus Spezifika, die Impulse für eine spannende, zeitgenössische Gestaltsprache geben. Diesen kulturellen, sozialen, atmosphärischen, emotionalen und gestalterischen Mehrwert der Bestandsentwicklung bezeichnet die Bundesstiftung Baukultur als goldene Energie.

Der Baukulturbericht 2022/23 Neue Umbaukultur der Bundesstiftung Baukultur kann unter www.bundesstiftung-baukultur.de bestellt oder als PDF heruntergeladen werden.

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