Materialgeschichten

Einführung in ein Studierendenprojekt zum Urban Mining in Weimar

Die verschwenderische und umweltzerstörende Nutzung von Ressourcen im Bauwesen ist für mehr als 50 % des weltweiten Abfalls und eine gewaltige CO2-Überproduktion verantwortlich. Unser studentisches Abschlussprojekt Materialgeschichten widmet sich möglichen Lösungsansätzen und appelliert durch gezielte Sensibilisierung an den aktuellen Baudiskurs. Anhand eines experimentellen Selbstversuchs wurden die Hindernisse und Vorurteile des zirkulären Bauens untersucht und in einer 1:1-Umsetzung auf die Probe gestellt. Indem wir Materialien aus der Weimarer Mine gesucht, analysiert und reinterpretiert haben, konnten wir uns den Themen der Wieder- und Weiterverwendung in der Architektur widmen und letztendlich den Materialien einen neuen Wert geben.

1 Problem mit Ausblick

Mehrere Millionen Tonnen nutzbarer Baustoffe landen allein in Deutschland jährlich auf Deponien, Tendenz steigend [1]. Unser konsumgesteuertes Handeln lässt die Lagerstätten an natürlichen Rohstoffen immer weiter schrumpfen, gleichzeitig sorgt dies dafür, dass der Bestand an Sekundärrohstoffen rasant zunimmt. Was wir als Abfall definieren, ist menschengemacht, das Resultat einer gesellschaftlichen Konstruktion von Wert und Wertlosigkeit. Das muss sich ändern. Gewaltige Auswirkungen auf Klima, Umwelt und Biodiversität sowie die derzeitige Rohstoffverknappung sind Ergebnis unserer linearen Wirtschaft, die nur noch durch einen radikalen Paradigmenwechsel gestoppt werden kann. Viele natürliche Materialien sind endlich und die Verknappung dieser Ressourcen findet vor unseren Augen statt. Wir müssen dringend weg von einem linearen Wirtschaftsmodell hin zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft. Es müssen ökologischere, intelligentere und auch wirtschaftlich nachhaltigere Wege gefunden werden, unsere Materialien zu nutzen – von der Verlängerung ihres Lebenszyklus bis hin zur Erhaltung ihres Werts. Es kommen komplexe Zusammenhänge und Kreisläufe auf uns Bauschaffende zu, welche neue Ansätze und Herangehensweisen erfordern. Als Architekturstudentinnen der Bauhaus-Universität haben wir (Bild 1) uns, inmitten dieses Wahnsinns, die Frage gestellt: Wie viel soll künftig gebaut werden – und v. a. wie?

2 Begriffserklärung zirkuläres Bauen

Unumstritten ist die Bestandserhaltung die schonendste und nachhaltigste Weise, mit Architektur umzugehen. Wo neu gebaut wird, ist eine vorausschauende und kreislauffähige Planung unumgänglich. Zunächst ist es essenziell, die Bedeutung des zirkulären Bauens zu erläutern. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es üblich, Gebäude rückzubauen, ihre Einzelteile zu sortieren, aufzubereiten und wiederzuverwenden. Denn die damaligen Gebäudestrukturen, Materialien und Fügungstechniken ließen dies zu. Doch die Menschheit hat verlernt, kreislauffähig zu konstruieren, und muss die Instrumente dafür wieder neu erlernen [2]. Das zirkuläre Bauen entspricht einem in sich geschlossenen System von Baustoffen, welche sich in einem dynamischen Kreislauf bewegen. Dessen zirkuläre Architektur plant für künftige Generationen mit, verbaut Bauteile rückbaufähig und sucht nach Wegen, bereits gebrauchte Baustoffe wieder in einen Kreislauf zu bringen. Somit können all jene Materialkreisläufe geschlossen und unsere Umwelt entlastet werden. Durch die Wiederverwendung bereits vorhandener Materialien anstelle der Gewinnung neuer Rohstoffe verringert sich der Materialverbrauch und damit auch die Menge an Baumaterialien, die entnommen und wieder als Abfall deponiert werden. Dabei stellt jedes Gebäude ein mögliches Materiallager dar. Das Potenzial ist also enorm, wenn wir es nur wollen. Voraussetzung dafür ist, dass der Gebäudebestand als anthropogene Lagerstätte und wichtige energetische, kulturelle, soziale und architektonische Ressource erkannt wird und so als Ausgangsmaterial für die Gestaltung unserer Zukunft nutzbar gemacht werden kann [3]. Zirkuläres Bauen ist also keine idealistische Bewegung, sondern eine wirksame Strategie zum Schutz unserer Ressourcen, Ökologie und Ökonomie. Ein zirkuläres Gebäude ist eine temporäre Ansammlung von Komponenten, Elementen und Materialien mit einer dokumentierten Identität, die ihre Herkunft und mögliche zukünftige Wiederverwendung festhält. Es ist in einer bestimmten Form zusammengesetzt, die für einen bestimmten Zeitraum eine jeweilige Funktion erfüllt oder eine bestimmte Nutzung innehat.

3 Projektidee

Die Abschlussarbeit haben wir genutzt, um herauszufinden, wie eine ressourceneffiziente und kreislaufgerechte Architektur aussehen kann. Wir sind klar gegen die verschwenderische und umweltzerstörende Nutzung von Ressourcen beim Bauen und machten uns auf die Suche nach neuen, zukunftssicheren Lösungen. Da momentan v. a. in Deutschland eine Wiederverwendung von Baustoffen nahezu inexistent ist und man durchs Selbermachen einfach am besten lernt, haben wir uns mit einer Bauherr:innenversicherung gewappnet und in die Praxis gewagt.

4 Über die Suche bis zur Geschichte

Durch eine Suchanzeige in Weimar wurde gesammelt, was nicht mehr gebraucht wurde. Auf Baustellen und Abbruchstellen konnte geborgen werden, was zu wertvoll für die Deponie war (Bild 2). Dabei sind wir auf unbekannte Orte aufmerksam geworden und mit Menschen ins Gespräch gekommen, die uns vieles lehren konnten. Das war auch der Schlüsselmoment für den Titel unserer Arbeit Materialgeschichten. Die gesammelten Geschichten handeln vom Finden und Gefundenwerden, sie erzählen von Menschen, den Orten und den Begegnungen. Unweigerlich sind wir Zeuginnen von Abrissszenarien geworden und konnten Orte, welche es heute so nicht mehr gibt, für nachfolgende Generationen festhalten.

Durch die Erstellung von Materialpässen wurde ein Materialverständnis geschaffen und gleichzeitig die Identität den jeweiligen Bauteilen zurückgegeben. Mit dieser feinfühligen Aufarbeitung des gefundenen Sekundärmaterials möchten wir mit Material­geschichten den Ressourcen unserer Umwelt ihren Wert zurückgeben. Materialien, die eigentlich schon der Deponie verschrieben waren, erhalten so eine weiterführende Anwendung auf vielseitige Weise. Auch die daraus entstehende Architektur ist von den Geschichten geprägt und wird durch diese aufgewertet. Jedes einzelne Element addiert seinen ästhetischen sowie emotionalen Wert.

5 Entwurfsprozess

Das Stöbern, Auffinden, Transportieren, Aufarbeiten und Dokumentieren des geschürften Materials hat den größten Teil des Entwurfsprozesses eingenommen und das bisher Erlernte herausgefordert. Ein buntes Sammelsurium an Bauteilen wuchs stetig und mit jedem neu dazugewonnenen Material veränderten sich auch die Entwürfe. Ganz nach dem Prinzip form follows availability. Die Karten wurden mit jedem Materialfund neu gemischt.

6 Aufbau

Aussortierte Kanthölzer eines Thüringer Sägewerks mit einer Länge von 5 m stellen das Ausgangsmaterial der Konstruktion (Bild 3) dar. Alles, was davon brauchbar war, wurde genutzt. Die längsten Hölzer für die Dachkonstruktion, die unterschiedlich abgelängten zwischen 3 m und 5 m für die Stützen und der gesamte Rest unter 3 m konnte im Boden als Parkett zwischengelagert werden. Die Holzstruktur wurde durch einen reversiblen Knoten verbunden, sodass man sie nach dem Rückbau direkt weiterverwenden kann. Als Verbindungselement dient eine aus Flachstahl, Gewindestangen und Muttern bestehende Klammer, die gleichzeitig auch das einzig neu gekaufte Material darstellt. Auf neun ehemaligen Dachterrassenplatten des Eiermannbaus in Apolda steht nun die Grundstruktur des Follys. Ein Stück Fassadengewebe eines denkmalgeschützten Einkaufszentrums wurde dafür als Sonnensegel mit Metallstäben aus der nahe gelegenen ehemaligen Feuer­wache verwebt. Ausrangierte Schalungsplatten wurden als Rückenlehne genutzt, ein löchriges Segel zu gemütlichen Sitzkissen vernäht und mit überschüssigen Weinkorken des einzigen Weinguts Weimars gefüllt. Ein Podest aus gespendeten Stegplatten und eine ehemalige Gartentür aus dem Bauteillager in Holzdorf wurden zusammengesteckt. Nur eine Handvoll recycelter Schrauben war dafür nötig.

Durch eine gemeinschaftliche Bauwerkstatt ist ein um- und rückbaufähiger Pavillon entstanden, der hauptsächlich aus geborgenem Material sowie Materialspenden der urbanen Mine Weimars besteht. Durch die Wiederverwendung der Materialien konnten über 1170 kg CO2eq (im Vergleich zum Neuerwerb) gespart werden, ein klimapositiver Beitrag.

Die Bergungs- und Herkunftsgeschichte eines jeden geretteten Bauteils ist über QR-Codes abrufbar und auf der Webseite zum Nachlesen bzw. Nachhören bereitgestellt.

In 13 Tagen mit der Hilfe zahlreicher Freund:innen und Werkstattleiter umgesetzt, haben wir einen Ort geschaffen, der viele Geschichten erzählen darf (Bilder 4, 5). In den vergangenen Wochen fanden hier unterschiedliche Veranstaltungen wie z. B. Kinoabend, Kleidertausch, Focaccia-Nachmittag und Töpferworkshops statt (Bild 6). Nun wird er zur langfristigen Nutzung als Dauerleihgabe an den gemeinnützigen Verein der Diakonie Landgut Holzdorf in den 6 km entfernten Landschaftspark transloziert. Ein Ort, von dem viele verbaute Materialien stammen und Geschichten weitererzählt werden können.

7 Fazit

Wer kreislaufgerecht baut, sorgt dafür, dass Baustoffe so lange wiederverwendet werden wie maximal möglich. Laut des Prinzips der Kreislaufwirtschaft ist es notwendig, Stoffkreisläufe zu schließen, dafür zu sorgen, dass Güter so lange wie möglich in Gebrauch gehalten und somit weniger Primärrohstoffe verbraucht werden. Es wird der gesamte Kreislauf betrachtet – von der Rohstoffgewinnung über die Gestaltung, den Herstellungsprozess, die Distribution des Endprodukts bis hin zu einer möglichst langen Nutzungsdauer sowie der Aufarbeitung als Sekundärrohstoff. Damit kann die Kreislauffähigkeit von Baustoffen einen wesentlichen Beitrag zu einer neuen Baukultur leisten [3]. Für die Umsetzung braucht es allerdings einen radikalen Bewusstseinswechsel und die nötige Erfahrung. Es muss eine aktive und effektive Abfallvermeidung eingeführt werden. Der Einsatz von ökologischen Baustoffen und die Wiederverwendung der in unserer aktuellen Gebäudeinfrastruktur bereits verbauten Bauteile müssen praktiziert, aber auch unterstützt werden. CO2-Bepreisung und energieeffizientes Bauen reichen nicht zum Erreichen unserer Klimaziele aus. Es muss klare Strategien und Gesetze zum zirkulären Ausführen und Rückbauen sowie Anreize zur Umsetzung geben.

Durch den Selbstversuch haben wir gemeinsam mit zahlreichen involvierten und tatkräftigen Mitstudierenden angefangen zu verstehen, dass sich in unserer aktuellen Bauwirtschaft dringend etwas ändern muss. Wir haben erlebt, wie sich beim zirkulären Bauen bisher bekannte Planungs- und Bauprozesse verändern und was es bedeutet, den Kreislauf eines jeden Bauteils schon im Vorhinein in den Entwurf einzuschließen. Wir mussten lernen, mit begrenzten Mitteln zu planen und auch flexibel jederzeit umplanen zu können. Wir haben außerdem gesehen, dass nur das wiederverwendet wird, was leicht und zerstörungsfrei ausbaubar ist. So sollte im Umkehrschluss jeder Einbau (im Idealfall) auch einen Ausbau garantieren.

Bisher hat die Baubranche das Lebensende eines jeden Bauteils bestimmt und das in den meisten Fällen viel zu früh. Es wird sich einer Verantwortung entzogen. Anstatt Material wiederzuverwenden, wird es neu produziert. Einfach, aber langfristig teuer für uns alle. Wahrlich eine Einbahnstraße. Solange Bauprozesse nicht holistisch durchdacht sind, können Materialkreisläufe nicht geschlossen werden. Durch politische Unterstützung, aber auch die eigene Verantwortung können wir ein Umdenken bewirken!


Literatur

  1. Umweltbundesamt [Hrsg.] Abfallaufkommen [online]. Dessau-Roßlau: UBA. www.umweltbundesamt.de/daten/ressourcen-abfall/abfallaufkommen#deutschlands-abfall
  2. NDR (2021) Die Nordreportage: Die Baustoff-Jäger – Alte Materialien neu entdeckt [online]. Die Nordreportage, 20. Apr. 2021. Hamburg: Norddeutscher Rundfunk. www.ndr.de/fernsehen/sendungen/die_nordreportage/Die-Baustoff-Jaeger-Alte-Materialien-neu-entdeckt,sendung1147882.html [Zugriff am: 25. März .2022]
  3. Entner, P.; Stockhammer, D. (2020) Vom linearen zum zirkulären Bauen: Liechtensteins Baubestand als Materialbank der Zukunft? in: Stockhammer, D. [Hrsg.] Upcycling, Wieder- und Weiterverwendung als Gestaltungsprinzip in der Architektur. Zürich: Triest-Verlag, S. 132–146.

Autorinnen

Marie Heyer

Nora Iannone

info@materialgeschichten.org
Bauhaus Universität Weimar, Fakultät Architektur und Urbanistik

Im Juni 2022 haben Nora Iannone und Marie Heyer ihr Architekturstudium mit der Arbeit Materialgeschichten an der Bauhaus-Universität Weimar erfolgreich abgeschlossen. Hier stellen sie ihr Projekt vor. Wie sie Materialien ihren Wert zurückgeben, indem sie ihre Geschichten erzählen, ist in den kommenden nbau-Heften zu lesen.

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