Wir müssen das Bauen neu erfinden

Mehr Effizienz und Produktivität – die klimaneutrale Baustelle 2045

Beim nachhaltigen Bauen sind die Unternehmen der Bauindustrie seit Langem engagiert mit ihren Projekten dabei. So wurden in den letzten zwei Jahrzehnten bereits zahlreiche Bauwerke für die Gewinnung erneuerbarer Energien, für energieeffiziente Mobilitätsformen und für andere nachhaltige Nutzungen errichtet. Niedrigst- oder Plusenergiegebäude gehören inzwischen zum technischen Standard. Seit einiger Zeit verändern sich auf unseren Baustellen auch die Bauweisen, die Fertigungsmethoden und die Maschinenparks.

Die Herausforderungen haben zuletzt deutlich zugenommen. In der Bauindustrie sind wir deshalb der Meinung, dass wir in der Umsetzung noch einmal deutlich „eine Schippe drauflegen“ müssen. Wir wollen noch viel nachhaltiger werden, und wir wollen das effizient und schnell in die Fläche bringen. Dafür müssen wir die Bauwerke, aber auch das ganze Bauen mitsamt seinem Umfeld substanziell neu erfinden. Die Zeichen der Zeit stehen auf Transformation: Das ist für uns kein leeres Wort, sondern die Notwendigkeit dazu begegnet uns in fast jedem Handgriff unseres Arbeitslebens.

Aber was genau bedeutet das konkret? An welchen Stellschrauben müssen wir drehen? Was kann in den Unternehmen geschehen, wo brauchen wir die Partner der Wertschöpfungskette, und welche Grundlagen brauchen wir von der Politik?

Innovationen benötigen ganzheitliches Denken

Um die Stellschrauben richtig adressieren zu können, gilt es beim nachhaltigen Bauen nicht nur die technischen Aspekte, sondern darüber hinaus die Prozesse von Planung und Errichtung zu betrachten. Für die ausführenden Unternehmen der Bauindustrie ist dies besonders wichtig – denn wie der Begriff schon sagt, führen wir aus, was unsere Auftraggeber bei uns bestellen und von Planern geplant wird. Im Rahmen der konventionellen Rollenverteilung der Branche bedeutet dies: Der Auftraggeber bestellt, die Planer erstellen die Planung, und dann kommt das Bauunternehmen und setzt um. Im Klartext: Wenn Nachhaltigkeit bestellt und geplant wird, bauen wir nachhaltig. Unter den neuen Voraussetzungen merken wir jedoch immer mehr, wie dieses Silodenken und die nacheinandergeschaltete Arbeitsweise an ihre Grenzen stoßen, weil sie uns davon abhalten, unser Know-how im vollen Umfang ein- und zusammenzubringen.

Gerade im Hinblick auf Innovationen und Nachhaltigkeit benötigen wir an dieser Stelle ein wirklich ganzheitliches Denken. Wir müssen imstande sein, Prozesse im Ganzen zu betrachten und ­Synergien auszuschöpfen. Dafür sollte es zum Regelfall werden, dass wir innovative Bauweisen und Investitionen schon in der Planung – lebenszyklusübergreifend also – verknüpft mit ihren Auswirkungen bewerten.

Das betrifft die Energieeffizienz im Betrieb – die wir ja durch ein gutes System aus Gebäudehülle und technischer Ausstattung determinieren –, aber auch die Rückbau- und damit Kreislauffähigkeit der eingesetzten Baumaterialien. Wir würden sogar noch weiter gehen und sagen, dass Energieeffizienz ein enormes Potenzial hat, wenn wir sie sektorenübergreifend denken. Das würde die Möglichkeit eröffnen, unsere Gebäude, Quartiere und Verkehrsinfrastrukturen in Zukunft gleichzeitig als Energieerzeuger und als Netzwerke zu nutzen.

Aufgrund unserer Arbeitsweise sind wir in der Bauindustrie schon seit Langem um eine systematisch engere Zusammenarbeit bemüht. In den Gesprächen, die wir mit unseren Partnern in der Wertschöpfungskette führen, wird dieser Wunsch jedoch in der letzten Zeit von immer mehr Seiten geäußert. Das liegt an den enormen Aufgabenstellungen, mit denen wir uns konfrontiert ­sehen – und die nur gemeinsam, unter optimaler Nutzung aller Synergien zu schaffen sind.

Auf unserer gemeinsamen To-do-Liste stehen der Neubau von 400.000 Wohnungen, mindestens eine Verdoppelung der Sanierungsrate sowie eine Komplettüberholung der Infrastruktur bei gleichzeitiger Neuausrichtung auf neue Mobilitätskonzepte und erneuerbare Energien. Und nicht nur sind die Bauaufgaben quantitativ enorm, auch die Art, wie wir planen und bauen, wird sich radikal ändern. Noch größer wird die Herausforderung durch den Umstand, dass wir am Anfang einer Zeit des Fachkräftemangels stehen, dessen Auswirkungen die ganze Branche gerade zu spüren beginnt. Vor diesem Hintergrund wirkten sich die Krisen der letzten Jahre mitsamt ihren Auswirkungen auf internationale Lieferketten, Material- und Energiepreise als zusätzlicher Katalysator aus und schärften das Bewusstsein für die Notwendigkeit ressourcensparenden, regionalen Wirtschaftens in möglichst geschlossenen Kreisläufen.

Die Kombination aller Randbedingungen macht es nun sehr deutlich: Die benötigte Steigerung von Effizienz und Produktivität ist enorm und wird in vielen Bereichen eine gänzlich andere Arbeitsweise erfordern. In der Bauindustrie sagen wir dazu bauindustriell – und können auf viele frühere Zusammenhänge verweisen, in denen wir darum geworben haben. Neu an der heutigen Diskussion ist allerdings, dass der Begriff industriell inzwischen nicht mehr als Widerspruch zur Nachhaltigkeit gesehen wird, sondern dass industrielle Lösungen und Produktionsmethoden im Gegenteil in den Dienst der Nachhaltigkeit gestellt werden.

Auftrag des Verfassungsgerichts

Das Verfassungsgericht hat uns im letzten Jahr einen vernehmlichen Auftrag zu handeln erteilt. Das Klimaschutzgesetz, das wir alle kennen, aber vielleicht noch nicht gründlich genug gelesen haben, verpflichtet gesetzlich zu nachhaltigem Handeln. Im § 13 steht: „Der Bund prüft bei der Planung, Auswahl und Durchführung von Investitionen und bei der Beschaffung, wie damit jeweils zum Erreichen der nationalen Klimaschutzziele nach § 3 beigetragen werden kann.“ Diese enorme Selbstverpflichtung der öffentlichen Hand scheint allerdings momentan noch nicht in der Umsetzung angekommen zu sein.

Das ist nur zu verständlich, denn das erforderliche Bündel an Know-how und sonstigen Voraussetzungen ist beträchtlich und liegt bei vielen ausschreibenden Stellen noch nicht vor. Es muss vielleicht auch nicht das Ziel sein, jeden kleinen Landkreis für den Bau einer Turnhalle entsprechend aufzurüsten. Im Verband der Bauindustrie untersuchen wir gerade, was es dafür alles braucht: Welche Wertungskriterien in welcher Form zu vergleichbaren Angeboten führen und wie die Prozesse rund um Ausschreibung und Vergabe zielführend aufgesetzt werden sollten. Wir werden unsere Denkansätze dazu mit der Auftraggeberseite diskutieren und hoffen, dass eine Art Handlungsleitfaden daraus wird.

Auch bei privaten Auftraggebern und Investoren ist die Nachfrage nach nachhaltigen Immobilien massiv gestiegen, verbunden mit der Notwendigkeit verbindlicher Bewertungsmaßstäbe und -tools. Nachhaltigkeit ist heutzutage ein wichtiges Asset, ohne dass man auf dem internationalen Immobilienmarkt mittelfristig nicht mehr gefragt sein wird – das hat zuletzt die diesjährige Expo Real in München deutlich gezeigt. Neben der Energieeffizienz wird es zu den Must-have-Assets von Bauwerken gehören, ihren zukünftigen Marktwert als anthropogenes Materiallager einschätzen zu können.

Shortcut durch Regulatorik benötigt

Für so eine Art von Bilanzierung brauchen wir Standards zu Praktikabilität, Transparenz und Durchgängigkeit – für alle Projektbeteiligten und durch alle Phasen des Projekts, also von der Konzeption bis in die Betriebsphase. Wir brauchen die Daten aus der Lieferkette in Form von verpflichtenden EPDs. Und wir werden dieser Daten nicht Herr werden, wenn wir unsere Prozesse nicht durchgängig digitalisieren.

Ganz oben drüber steht die Synchronisierung der Regelwerke, die Bilanzierungen fordern oder einsetzen: Das betrifft die nationale und europäische Gesetzgebung, die Normung und das Zulassungswesen vom Klimaschutzgesetz über das Bauordnungsrecht, von der Taxonomie bis hin zur Bauprodukteverordnung und den einschlägigen Zertifizierungssystemen.

Der Appell richtet sich daher eindringlich an die Politik, das alles zusammenzuführen. Denn ein Durcheinander – manchmal sogar Gegeneinander – verschiedener, nicht abgestimmter Maßnahmen hilft nicht, unsere Ziele zu erreichen. Für die Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Ressorts und Institutionen brauchen wir die Fachkunde unseres Bauministeriums als Projektmanager.

Großer Handlungsbedarf besteht insbesondere beim Normungs- und Zulassungswesen. In diesem Zusammenhang untersuchen wir gerade die Einsatzmöglichkeiten von RC-Materialien, und zwar nicht in technischer Hinsicht, sondern im Prozess. Denn wir haben festgestellt, dass wir bei der Wiederverwendung von Materialien, dem Wiedereinspeisen von gebrauchten Materialien in den Zyklus, derzeit auf Hemmnisse stoßen, die nicht technischer Natur sind.

So gibt es bspw. Zielkonflikte und teilweise sogar eklatante Widersprüchlichkeiten zwischen den Regelkreisen Produktrecht und Abfallrecht. Die aktuellen Vorschriften zu Bauprodukten sind de facto v. a. für den einmaligen Gebrauch eines Produkts gedacht. Nach seiner ersten Verwendung wandert ein Bauteil zunächst in den Bereich des Abfallrechts, aus dem es nur unter großen Anstrengungen wieder in den Bereich des Produktrechts zurückwechseln kann. Dass dies nicht zu einer lückenlosen Kreislaufwirtschaft beiträgt, liegt auf der Hand.

Circular Economy und Kreislaufwirtschaft werden in den kommenden Jahren immer wichtiger werden. Die Materialengpässe und Lieferkettenprobleme der heutigen Krise verdeutlichen dies massiv. Wenn wir nicht lernen, unsere Ressourcen im Kreislauf zu nutzen, werden wir an ihre Grenzen stoßen.

Vieles, was hierzu bereits technisch möglich ist, kommt aber aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Anwendung. Wir brauchen einen Shortcut durch die Regulatorik, denn im berechtigten Ansinnen des Interessenausgleichs ist unsere Regulatorik inzwischen zu schwerfällig geworden. Es gibt eine Lücke, einen Gap zwischen dem, was man gemäß den Klimazielen theoretisch tun müsste, und dem, was wir rechtlich zu tun imstande sind. Es darf nicht länger sein, dass einwandfreie gebrauchte Materialien im Abfallrecht hängenbleiben, und wir müssen die Zulassungshürden für innovative, nachhaltige Bauweisen praxisgerecht machen. Denn um Akzeptanz für gebrauchte Materialien auf der Auftraggeberseite zu erzeugen, muss ihre Nutzung begünstigt werden. Und um ihre Marktdurchdringung zu erreichen, muss ein lohnenswerter Business Case dahinterstehen.

Wo immer es derartige Zielkonflikte gibt, braucht es ein eindeutiges Bekenntnis der Politik, vielleicht auch noch mehr gesellschaftliche Diskussion zu den Prioritäten. Im Sinne einer konsequenten, verfassungsgemäßen Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele müssen die Voraussetzungen für ihre Umsetzung geschaffen werden. Andernfalls werden Innovationen nicht nur erschwert, sondern so ausgebremst, dass wir die Klimaziele für 2030 reißen werden.

Bessere Zusammenarbeit in der Wertschöpfungskette

Die notwendige intensivierte Zusammenarbeit innerhalb der Wertschöpfungskette kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten – wenn die Verantwortlichkeiten so fair und eindeutig geregelt sind, dass alle Seiten in die Lage versetzt werden, ihren jeweils eigenen Input zu optimieren. Dabei muss die Risikoverteilung den Kompetenzen und Verantwortlichkeiten entsprechen.

Wir brauchen dafür moderne Vertragsformen, die eine bessere Zusammenarbeit unterstützen. Planung und Bau müssen frühzeitig zusammen denken dürfen, eine nacheinander erfolgende Beauftragung hemmt die Zusammenarbeit. Alle Beteiligten wünschen sich heutzutage, das Schlagwort Partnerschaft mit echtem Leben zu füllen. Die Bauindustrie hat viele Empfehlungen zu innovativen Vertragsformen ausgearbeitet, aber wir freuen uns auch, mit unseren Auftraggebern und Partnern aus der Wertschöpfungskette diese beständig weiterzuentwickeln.

Wir sind uns sicher, dass es nicht die eine richtige Vertragsform gibt, sondern dass jedes Projekt seine angemessene Form finden muss, durch welche die Akteure darin gestärkt werden, vertrauensvoll und auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Gute Zusammenarbeit sollte man nicht dem Zufall überlassen, sie darf ruhig geplant sein. Vieles wird in der Praxis auch bereits sehr partnerschaftlich gelebt, aber wir sollten jetzt versuchen, das nächste ­Level zu erreichen.

Wenn Nachhaltigkeit gelingen soll, muss der Projektaufsatz von Anfang an darauf abgestellt werden. Es kann daher gar nicht genug betont werden, wie wichtig für das Gelingen eines Projekts das eindeutige Commitment der Bauherrenschaft und eine eindeutige, nachhaltige Zielfestlegung sind. Eine geeignete vertragliche Konstellation setzt alle Beteiligten in die richtigen Beziehungen zueinander und verleiht Handlungskompetenz. Ausgangspunkt hierfür ist eine ganzheitliche Vergabe. Sie beinhaltet aus unserer Sicht eine frühzeitige Einbeziehung der Bauunternehmen, eine funktionale Leistungsbeschreibung, qualitäts- statt preisorientierte Wertungskriterien und last, but not least eine partnerschaftliche Anreiz- und Risikoverteilung.

Ganzheitlichkeit als bauindustrieller Markenkern

Das ganzheitliche Denken und Arbeiten kommt unserer bauindustriellen Arbeitsweise sehr entgegen, denn es ist ja geradezu der Markenkern der Bauindustrie, ein komplettes Produkt abzuliefern. Dazu gehört eigentlich schon immer das wertschöpfungskettenübergreifende, lebenszyklus-, bauwerks-, quartiers- und sektorenübergreifende Zusammendenken von Technologien und Gewerken.

Das Zusammenwirken aller Akteure, Regelwerke und Stellschrauben in ihren Wechselwirkungen ist hochkomplex. Wir haben deshalb, gemeinsam mit dem VDMA, das Fraunhofer IAO gebeten, eine Art Gesamtschau für den Weg von heute bis 2045 aufzuzeigen. Diese Roadmap zur klimaneutralen Baustelle 2045 befindet sich gerade in der letzten Fertigungsschleife. In Kürze wird an dieser Stelle mehr darüber zu lesen sein. Wir hoffen, dass wir damit eine umfassende Gesprächsgrundlage vorlegen können, um mit den Leser:innen, der Fachwelt, den Partnern aus der Wertschöpfungskette und der Politik in einen vertieften Dialog zu gehen.

Denn wir sind überzeugt: Das, was vor uns liegt, schaffen wir nur zusammen.


Der Beitrag basiert auf der Rede von Dr. Matthias Jacob auf der Klimakonferenz der BAUINDUSTRIE am 13. Oktober 2022 in Berlin.


Autor

Dr. Matthias Jacob, matthias.jacob@implenia.com
Vize-Präsident Technik Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e. V., Berlin
www.bauindustrie.de

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