Neue Spielregeln für ­nach­haltiges Bauen

Nachhaltiges Bauen ist einer der Schlüsselfaktoren für die ökologische Wende, der sich Deutschland vollmundig verschrieben hat, ohne die selbst gesteckten Ziele bisher auch nur annähernd erreicht zu haben. Dafür gibt es neben rein politischen auch solche Gründe, die in falsch ausgerichteten Rechtsregeln und Projektstrukturen wurzeln. Diese Hindernisse können nur überwunden werden, wenn wir die Kraft aufbringen, die Gestaltungshoheit für die Realisierung von Bauprojekten wieder in die Hände derer zu geben, die es angeht: die Projektpartner. Dafür braucht es nicht weniger als einen Kulturwandel, um nachhaltiges Bauen in einer Weise zu ermöglichen, die wirklich ein Faktor für die ökologische Wende sein könnte.

Nachhaltigkeit ist unspezifisch und divers. Sie verknüpft Ökologie, Ökonomie und Soziales mit dem Ziel, uns zu befähigen, klug und effizient mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen umzugehen, ohne unserem Wirtschaftssystem die Grundlagen für seinen Erfolg zu entziehen. Deshalb ist es fahrlässig falsch, nachhaltiges Bauen auf die Verwirklichung von Umwelt- und Klimaschutzzielen zu reduzieren. Es geht eben nicht nur um die Reduzierung des CO2-Ausstoßes oder um den Einsatz energieeffizienter Gebäudetechnik, sondern um eine ganzheitliche Betrachtung des Baugeschehens unter Berücksichtigung der mit diesem Geschehen verknüpften Wertschöpfungskette in einem technisch und rechtlich hochkomplexen Umfeld.

Es geht eben nicht nur um die Reduzierung des CO2-Aus­stoßes, sondern um eine ganzheitliche Betrachtung des ­Bau­geschehens

Nachhaltiges Bauen setzt Innovation voraus. Neue Materialien, neue Bauweisen und neue Standards müssen entwickelt und umgesetzt werden. Die damit einhergehenden technischen und ökonomischen Herausforderungen sind immens. Dies umso mehr, weil sie in einem Marktumfeld an uns herangetragen werden, das derzeit durch Volatilität und Unsicherheit so stark geprägt wird wie lange nicht mehr, vom zunehmenden Fachkräftemangel ganz zu schweigen.

Innovation und ökonomische Effizienz sind jedoch nie das Ergebnis staatlich verordneten Handelns. Sie entstehen vielmehr durch individuelle Klugheit, Schaffenskraft und die Freiheit des Einzelnen, seine Ideen umsetzen zu können, auch mit dem Risiko des Scheiterns. Indes: Bauen findet hierzulande in Strukturen statt, die Innovation und effizientes Bauen nicht befördern, sondern massiv behindern. Diese Strukturen sind geprägt von Vertragsregeln, die Planung und Ausführung voneinander trennen und den ökonomischen Erfolg der Beteiligten systemisch an die hoch konfrontative Durchsetzung von Partikularinteressen in einer von Intransparenz gekennzeichneten Wettbewerbssituation knüpfen. Hinzu tritt ein durch öffentlich-rechtliche Vorschriften hoffnungslos überregulierter Markt, der Innovation im Keim erstickt und weitgehend unmöglich macht.

Beide Problembereiche müssen substanziell verändert und letztlich aufgelöst werden, um nachhaltiges Bauen wirkungsvoll zu ermöglichen. Dazu bedarf es eines Kulturwandels, aus dem neue Spielregeln für die Realisierung von Bauvorhaben entstehen müssen.

1 Rechtliche Rahmenbedingungen, Projektstrukturen und nachhaltiges Bauen

Werfen wir einen kurzen generalisierenden Blick auf Projektstrukturen und ihre Wirkungsweise. Nur auf dieser Grundlage wird deutlich, warum diese Strukturen grundlegend verändert werden müssen, um effizient nachhaltig bauen zu können.

Die Entscheidung für die Durchführung einer Baumaßnahme, ganz gleich welcher Art, wird maßgeblich beeinflusst durch die ökonomischen Erwartungen der Beteiligten. Der Besteller will für möglichst wenig Geld das bestmögliche Bauergebnis realisieren; der Unternehmer möchte mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel Geld verdienen. Das ist legitim. Dann aber liegt es auf der Hand – und es bedarf keiner näheren Erläuterung –, dass erfolgreiches Bauen nur gelingen kann, wenn die Verwirklichung solcher disparaten Interessen an die Erreichung eines gemeinsamen Ziels geknüpft wird.

Dieses gemeinsame Ziel gibt es. Es besteht darin, das jeweilige Projekt in Bezug auf die Faktoren Qualität, Kosten und Zeit möglichst störungsarm zu realisieren. Dann nämlich gibt der Besteller nicht mehr Geld aus als er muss, und der Unternehmer verdient sein Geld mit der Erbringung der versprochenen Bauleistungen und nicht mit der streitanfälligen Verschwendung von Ressourcen für die Abarbeitung von Störfällen.

Es geht also ganz allgemein darum, Vertragsstrukturen zu etablieren, die diesem gemeinsamen Ziel best for project Geltung verschaffen. Die gängige Vertragspraxis bewirkt das Gegenteil. Sie ist geprägt von dem Bestreben des Bestellers, einerseits im Wettbewerb um die Vergabe der Bauleistungen möglichst niedrige Preise zu erzielen und andererseits zugleich Risiken so weit wie möglich auf den Unternehmer zu verlagern. Unter diesen Rahmenbedingungen kann wiederum der Unternehmer nur bestehen, wenn er den für ihn oft unauskömmlichen Vertragspreis durch ein ausgefeiltes Claim-Management aufbessert. So entsteht ein über die Kalkulation des Unternehmers organisierter verdeckter Wettbewerb, der die Beteiligten nicht zu der effizienten Realisierung eines gemeinsamen Ziels motiviert, sondern, im Gegenteil, Konfrontation zum Projektprinzip für die Realisierung ihrer gegenläufigen ökonomischen Interessen erhebt.

Um diesen ökono­mischen Wahnsinn zu beenden, müssen wir grundsätzlich umdenken

Um diesen ökonomischen Wahnsinn zu beenden, müssen wir grundsätzlich umdenken. Die Gestaltung von Bauprojekten aller Art darf nicht länger bestimmt werden von dem auf Konfrontation ausgerichteten Ansatz, den Handlungsspielraum der Projektbeteiligten durch ein immer stärker ausdifferenziertes, auf Sanktionen für Nichtlösungen ausgerichtetes Rechtekorsett einzuengen; stattdessen muss ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der es den Projektpartnern gestattet (und abverlangt!), gemeinsam Lösungen für Problemlagen zu suchen und umzusetzen.

Die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die proaktive Gestaltung eines effizienten und störungsarmen Projektablaufs zwingen dazu, die Rahmenbedingungen für Bauprojekte an folgenden Grundsätzen auszurichten und die hieraus resultierenden Verträge entsprechend zu konzipieren:

  • realistische Budgets und auskömmliche Preise
  • kein verdeckter Wettbewerb durch spekulative Preiskalkulation
  • integratives Planen und Bauen
  • gemeinsame Risikobewertung und kluges Risikomanagement anstatt Risikozuweisung
  • klare Definierung der Entscheidungsbefugnisse und Entscheidungsprozesse
  • klare Zuweisung von Verantwortung
  • Etablierung einer angemessenen Fehlerkultur
  • „gute“ Kommunikation
  • transparente Dokumentation
  • Etablierung iterativer Lernprozesse

Die Verankerung dieser Prinzipien in Vertragswerken ist durchaus komplex und kann hier nicht näher erläutert werden. Stattdessen ist darauf hinzuweisen, dass diese Grundprinzipien von Teilen der Branche mittlerweile wahrgenommen und anerkannt werden. Das neue Projektmodell der sog. Integrierten Projektabwicklung (IPA) ist in aller Munde und wird von signifikanten Marktteilnehmern (Bundesbau, DB, HPA …) insbesondere bei hochkomplexen Großbauprojekten umgesetzt. Doch was hat das alles mit Nachhaltigkeit zu tun?

Nachhaltiges Bauen zwingt nach den eingangs dargestellten Grundsätzen zu einer ganzheitlichen Betrachtung der Baumaßnahme unter Berücksichtigung der jeweiligen technischen, gestalterischen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Es obliegt den Projektpartnern, diese Rahmenbedingungen nach ihren individuellen Bedürfnissen so zu definieren und festzulegen, dass die angestrebten Nachhaltigkeitsziele erreicht werden, ohne den ökonomischen Erfolg der Baumaßnahme zu gefährden. Dementsprechend muss es ihnen auf rechtlich abgesicherter Grundlage gestattet sein, die hierfür erforderlichen Maßnahmen in einem iterativen Prozess zu klären und gemeinsam Prioritäten festzulegen, die nicht von der Durchsetzung individueller ökonomischer Vorteile dominiert werden, sondern das gemeinsame Projektziel der Errichtung eines nachhaltigen Bauwerks im Fokus haben, ohne wirtschaftliche Interessen preiszugeben. Nur so wird im Übrigen Innovation möglich, die nicht nur die Voraussetzung für nachhaltiges Bauen in dem hier verstandenen Sinne ist, sondern ihrerseits wiederum durch die sich aus der Realisierung von nachhaltigen Bauvorhaben ergebenden Anforderungen angeregt und befeuert wird.

Aus alledem folgt, dass effizientes und bezahlbares nachhaltiges Bauen nur möglich sein wird, wenn der beschriebene Kulturwandel durch eine substanzielle Neuausrichtung der maßgeblichen rechtlichen Rahmenbedingungen gelingt. Jeder Versuch, diese Notwendigkeit zu umgehen, wird scheitern und die Chancen, ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Wirtschaftssystem Bau zu etablieren, verzwergen.

2 Technische Normen, Überregulierung und nachhaltiges Bauen

Die erzwungene ­Einhaltung von nicht ­selten unsinnig ­strengen Vor­gaben führt dazu, dass die sinnvollen Nach­haltigkeitsziele nicht umgesetzt werden können

Die effiziente und kostengünstige Umsetzung von nachhaltigen Baumaßnahmen scheitert allerdings nicht nur an grundlegend falsch austarierten Projekt- und Vertragsstrukturen. Sie wird auch behindert durch konkrete Vorgaben des Gesetz- und Verordnungsgebers. Eine selbst vom Fachmann nicht mehr zu überblickende und zu bewältigende Flut von DIN-Normen und sonstigen technischen Regelwerken einerseits sowie bauordnungsrechtlichen Vorschriften andererseits schränkt den Handlungsspielraum der Baubeteiligten in einem Maße ein, das es fast unmöglich macht, Bauprojekte nachhaltig und dennoch bezahlbar zu verwirklichen. Die erzwungene Einhaltung von nicht selten unsinnig strengen Vorgaben für den Schallschutz, den Brandschutz, die Statik oder die Energieeffizienz von Gebäuden, um nur einige zu nennen, führt dazu, dass die im konkreten Einzelfall für die Bedarfe und (finanziellen) Möglichkeiten des Bestellers sinnvollen Nachhaltigkeitsziele nicht umgesetzt werden können, weil ihre Realisierung dann unmöglich oder viel zu teuer würde. Das ist, auch gesamtgesellschaftlich gesehen, eine Fehlentwicklung, die sich in den letzten Jahren dramatisch verschärft hat. Sie muss gestoppt und im Interesse des nachhaltigen Bauens korrigiert werden.

2.1 Das materielle Recht/anerkannte Regeln der Technik

§ 633 Abs. 2 BGB enthält als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die Vorgabe, dass der Unternehmer für die vertragsgerechte (mangelfreie) Herstellung des versprochenen Werks die anerkannten Regeln der Technik (aRdT) einhalten muss. Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs um einen bautechnischen Mindeststandard, der als vertraglich zugesichert gilt, wenn die Vertragsparteien nichts anderes vereinbart haben (vgl.: BGH, Urt. v. 14.05.1998 – VII ZR 184/97; Urt. v. 28.10.1999 – VII ZR 115/97). Die Einhaltung der aRdT ist also disponibel.

Sie stellen gleichwohl eine hohe Hürde auf dem Weg zum kostengünstigen und nachhaltigen Bauen dar, weil es sich bei den aRdT um technische Regeln handelt, die von einer hinreichenden Zahl kompetenter Fachleute als theoretisch richtig erachtet werden und die sich in der Praxis durchgesetzt und als richtig bewährt haben ([1], 5. Teil Rn. 47 mwN). Nach einer in Rechtsprechung und Literatur weitverbreiteten Auffassung soll zudem die widerlegbare Vermutung gelten, dass DIN-Normen (und möglicherweise auch andere technische Regelwerke, bspw. DIN-EN- und DIN-EN-ISO-Normen, VDE-Normen, VDI-Richtlinien etc.) aRdT enthalten, die folgerichtig nach obigen Grundsätzen bei der Umsetzung von Bauvorhaben auch dann als gemäß § 633 Abs. 2 BGB geschuldeter Mindeststandard beachtet werden müssen, wenn ihre Einhaltung nicht ausdrücklich vereinbart ist. Im Gegenteil: Wollen die Vertragsparteien von den aRdT abweichen, so müssen sie hohe Hürden überwinden, welche die höchstrichterliche Rechtsprechung hierfür aufgebaut hat. Vereinfacht ausgedrückt muss jede Abweichung rechtsgeschäftlich so konkret adressiert werden, dass der Besteller bei objektiver Betrachtungsweise keinem Zweifel mehr unterliegen kann, welche Mindeststandards er im Einzelnen aufgibt und welche Leistungen er stattdessen mit welchen Auswirkungen auf die Funktionstauglichkeit und Verwendungseignung des Gesamtwerks erhält (vgl.: BGH, Urt. v. 14.11.2017 – VII ZR 65/14, Rn. 29).

Nun liegt es allerdings auf der Hand, dass diejenigen Baustoffe, Bauteile und Bauverfahren, deren Anwendung nach obigem Verständnis als aRdT gilt, zumeist unter Rahmenbedingungen erprobt wurden, die nicht an den Anforderungen des nachhaltigen Bauens ausgerichtet waren. Weil bautechnische Regeln im Übrigen erst dann zu aRdT werden, wenn Sie über Jahre erfolgreich in der Praxis angewendet wurden, repräsentieren sie oft einen schon längst überholten Standard, der, anders als der sog. Stand der Technik, Innovationen ignoriert und letztlich verhindert. Auf diese Weise werden durch den Abschluss eines Bau- oder Architektenvertrags regelmäßig Mindeststandards verbindlich vereinbart, die mit einer sinnvollen Umsetzung von Nachhaltigkeitsanforderungen nicht in Einklang zu bringen sind und auf diese Weise nachhaltiges Bauen erschweren und signifikant verteuern.

Der Ausschuss für Wohnen, Bau und Verkehr des Bayerischen Landtags hat auf Anregung und nach Vorarbeit der Bayerischen Architektenkammer dieses Problem erkannt und in seiner Broschüre zum Fachgespräch zur Einführung einer Gebäudeklasse E (wie einfach oder experimentell) adressiert. Ziel dieses mittlerweile auch von der Bundesregierung aufgegriffenen Ansatzes ist es, den Vertragspartnern eines Wohnungsbauvorhabens die Möglichkeit zu eröffnen, rechtssicher auf die Einhaltung kostentreibender und innovationshemmender aRdT zugunsten höherrangiger Projektziele verzichten zu können. Das ist der richtige Ansatz. Allerdings ist fraglich, ob er greifen wird, denn seine wesentliche Schwäche liegt darin, dass mit dem Gebäudetyp versucht wird, zu typisieren, was – wie oben ausgeführt – individuell verhandelt und festgelegt werden muss.

2.2 Das öffentliche Baurecht

Ein zumindest ebenso großes Problem für die sinnvolle Realisierung nachhaltigen Bauens stellt der Umstand dar, dass die in DIN-Normen und anderen technischen Regelwerken niedergelegten bautechnischen Standards mittlerweile tief in das öffentliche Bauordnungsrecht eingesickert sind und zu einer hoffnungslosen Überregulierung des gesamten Geschäftsfelds Bau geführt haben. Die schiere Zahl der Verordnungen, Vorschriften und Bestimmungen, die bei der Umsetzung von Bauvorhaben aller Art beachtet und eingehalten werden müssen, ist für die Praxis kaum noch handhabbar. Nicht wenige Bauprojekte „sterben“ vorzeitig, weil sie etwa bspw. an den Anforderungen des Brand- oder Denkmalschutzes scheitern.

Der Befund, der hier nicht näher vertieft werden soll, lautet, dass die bauordnungsrechtliche Regelungsdichte hierzulande viel zu hoch ist, die insoweit geltenden Sicherheits- und Komfortstandards zu streng sind und von Annahmen ausgehen, die i. d. R. nicht auf das übergeordnete Prinzip der Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Auf diese Weise wird nachhaltiges Bauen teilweise unmöglich, jedenfalls so kompliziert und teuer, dass sich kaum Investoren und Bauherren finden, die Nachhaltigkeit zum Leitprinzip für ihr jeweiliges Bauvorhaben erheben.

Deshalb ist es richtig und wichtig, die systemische Überregulierung des Bauens durch öffentlich-rechtliche Vorgaben auf ein vernünftiges, zur Sicherung von unverzichtbaren Schutz- und Sicherheitsstandards notwendiges Maß zurückzuführen und das Bauordnungsrecht durchgreifend zu vereinfachen. Dazu ist nur der Verordnungs- und Gesetzgeber in der Lage.

Auch hier sind die Diskussionen rund um den Gebäudetyp E ein Schritt in die richtige Richtung, da es im Kern darum geht, den Projektpartnern rechtssicher zu ermöglichen, zivil- und bauordnungsrechtliche Standards durch ihre privatautonome Entscheidung für einen solchen Gebäudetyp abzusenken. Auf die Schwäche dieses Ansatzes wurde bereits verwiesen, aber man halte sich vor Augen, dass bisher völlig unklar ist, was sich konkret hinter dem Begriff Gebäudetyp E verbirgt und welche für die Bestimmung der geschuldeten Leistung maßgeblichen Standards an die Stelle derjenigen treten sollen, die man mit der Vereinbarung eines solchen Gebäudetyps beseitigen will. Es wäre nicht verwunderlich, wenn man versuchen würde, dieses Problem mit einem weiteren Schwung an neuen Normen und Regelungen zu beheben.

Der Schlüssel für die Ermöglichung ­bezahlbaren nachhaltigen Bauens liegt in der Einführung möglichst weit­reichender Experimentierklauseln in das öffentliche Bau- und Bauordnungsrecht

Der Schlüssel für die Ermöglichung bezahlbaren nachhaltigen Bauens liegt daher vielmehr in der Einführung möglichst weitreichender Experimentierklauseln in das öffentliche Bau- und Bauordnungsrecht, die nach dem von dem Modell Gebäudeklasse E verfolgten Prinzip den Projektpartnern die Freiheit verschaffen, über öffentlich-rechtlich festgelegte Standards im Interesse der Nachhaltigkeit disponieren zu dürfen, ohne dass hierdurch elementare Schutzzwecke des Bauordnungsrechts preisgegeben werden. Das dies alles möglich ist, belegt die jüngste Geschichte. Im Rahmen der Flüchtlingskrise in 2015 war es gegen alle brandschutzrechtlichen Vorgaben plötzlich möglich, Personen dauerhaft in nicht für Wohnzwecke bestimmten Turnhallen und anderen Gemeinschaftsgebäuden unterzubringen, weil man sich anders nicht mehr zu helfen wusste; erst im vergangenen Jahr wurde in einer ähnlichen Zwangslage der erste deutsche Flüssigerdgas- (LNG-) Terminal in Wilhelmshafen mit einer im Vergleich zu üblichen Standards kaum nachvollziehbar kurzen Vorlaufzeit und offenkundig unter Umgehung elementarer Umweltschutzbestimmungen in Betrieb genommen. Es kommt also darauf an, die Politik davon zu überzeugen, dass der drohende Kollaps des Wohnungsbaus eine Zwangslage noch viel größerer Dimension darstellt, deren Bewältigung die Außerachtlassung nachgeordneter Ziele des Bauordnungsrechts ohne Weiteres rechtfertigt.

Experimentier- bzw. Öffnungsklauseln, die diesem Anliegen Rechnung tragen könnten, gibt es bereits, wie etwa § 56 LBO BW in seiner seit dem 1. August 2019 geltenden Fassung zeigt. Allerdings wird es darauf ankommen, solche Experimentier- und Öffnungsklauseln so zu konkretisieren und spezifizieren, dass sie eine hinreichend sichere Grundlage für die individuelle Ausgestaltung einer an Nachhaltigkeitszielen ausgerichteten Baumaßnahme bieten und es nicht der unkalkulierbaren Einschätzung örtlicher Baugenehmigungsbehörden überlassen bleibt, ob die von den Projektpartnern gewünschte Abstandnahme von verzichtbaren Baustandards genehmigt wird oder nicht.

3 Zusammenfassung

Die vorstehenden Ausführungen, Erkenntnisse und Feststellungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Das Thema nachhaltiges Bauen betrifft alle Bereiche des Bauens und stellt eine Herausforderung von elementarer Bedeutung für den Fortbestand unserer auf Teilhabe und Wohlstand fußenden Gesellschaft dar.
  • Die effiziente und wirkmächtige Verwirklichung von Nachhaltigkeit setzt eine ganzheitliche Betrachtung der jeweiligen Baumaßnahme voraus. Ob und wenn ja, in welcher Weise solche Nachhaltigkeitsziele umgesetzt werden sollen, entscheiden die jeweiligen Projektpartner.
  • Es ist zwingend erforderlich, dass solche Entscheidungen rechtssicher auf einer Grundlage getroffen werden können, die den Projektpartnern das erforderliche Maß an Entscheidungsfreiheit auch während der Durchführung der Baumaßnahme zubilligt.
  • Die wirkmächtige Verwirklichung von kostengünstigerem und nachhaltigem Bauen wird nicht ohne einen Kulturwandel und eine grundsätzlich veränderte, an Kooperation und Kollaboration ausgerichtete Anwendung des (Bauvertrags-)Rechts sowie die Etablierung entsprechender Projektstrukturen gelingen. Ebenso wenig wird die anzustrebende Zurückdrängung des Bauordnungsrechts durch die Einführung von Experimentierklauseln o. Ä. ohne eine grundlegende Anpassung der Projekt- und Vertragsstrukturen die erhoffte Wirkung entfalten.
  • Die Projektpartner müssen sich im Interesse einer effizienten und kostengünstigen Durchführung des jeweiligen Bauvorhabens ohne Weiteres von der Einhaltung allgemeingültiger Mindeststandards (aRdT) lösen können und weitgehend frei darüber entscheiden dürfen, mit welchen gestalterischen, planerischen und baulichen Maßnahmen sie insbesondere Nachhaltigkeitsziele verwirklichen wollen. Hierfür sind moderate Änderungen im Regelungsbereich des § 633 BGB vorzunehmen.
  • Der Gesetz- und Verordnungsgeber muss dazu veranlasst werden, den Einfluss des öffentlichen Bau- und Bauordnungsrechts auf die konkrete Abwicklung von Baumaßnahmen im Interesse der Kosteneffizienz und Nachhaltigkeit auf ein angemessenes Maß zurückzuführen.

Literatur

Kniffka, R.; Koeble, W.; Jurgeleit, A.; Sacher, D. (2021) Kompendium des Baurechts. 5. Aufl. München: C. H. Beck.


Stefan Leupertz, geb. 1961, Jurastudium Uni Bonn; 1987 Erstes Staatsexamen Köln; Rechtsreferendar Köln; 1990 Zweites Staatsexamen Düsseldorf; 1990 Richter auf Probe Landgericht Kleve; 1993 Richter Amtsgericht Moers; 1997 Richter Landgericht Kleve; 2000 Richter Oberlandesgericht Düsseldorf; 2006 stellv. Vorsitzender 5. ZS; seit 2005 Lehrbeauftragter Baurecht TU Dortmund, Uni Marburg; Honorarprofessor; 2008–2012 Richter Bundesgerichtshof Karlsruhe; seit 2013 Leupertz Baukonfliktmanagement Köln; seit 2020 Gründer, GF 3D2L Köln

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