Digitale und ökologische Transformation der Bauwirtschaft

Wir stehen vor bisher nicht gekannten Herausforderungen. Einzelne Krisen treten nicht hin und wieder auf, sondern überraschen durch Gleichzeitigkeit und durch Verstärkungseffekte. Die klimabedingten Krisen wie Starkregen, Sturzfluten, Tornados, Dürre, Artensterben, Hunger oder Ressourcenknappheit sind menschengemacht. Der Weltklimarat hat einen Erwärmungskorridor vorgegeben, der zwischen 1,5 °C und 2,0 °C liegt. Die untere Marke können wir wohl nicht mehr erreichen. Bis 2030 müssen wir den CO2-Ausstoß halbieren. Deswegen müssen wir sofort handeln. Dabei ist die Bauwirtschaft besonders gefordert.

Die Herausforderungen

Die Nachhaltigkeitsziele 2030 der UN, das UN-Sendai-Rahmenwerk 2015–2030 zur ­Katastrophenvorsorge [1], der Green Deal der EU vom Juni 2021 [2], das Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 zum Klimaschutzgesetz, das Kreislaufwirtschaftsgesetz und weitere Vereinbarungen zielen alle darauf ab, den CO2-Ausstoß bis 2030 zu halbieren und bis 2045 klimaneutral zu werden. Das ist eine gigantische globale Herausforderung. Sie zu meistern, erfordert zuallererst ein Umdenken jedes einzelnen Menschen.

Ohne multi­disziplinäre Zusammen­arbeit und Kompromiss­bereitschaft werden wir versagen

Die UN-Nachhaltigkeitsziele 6 sauberes Wasser, 7 bezahlbare saubere Energie, 8 menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum, 9 Industrie, Innovation und Infrastruktur, 11 nachhaltige Städte und Gemeinden, 12 nachhaltiger Konsum und Produktion, 15 Leben an Land und 17 Partnerschaften zur Erreichung der Ziele beziehen sich unmittelbar auf die Bauwirtschaft. Hieraus lassen sich Stakeholder identifizieren, die wir zusammenbringen müssen, um die Transformation voranzubringen. Das sind Wasserwirtschaft, Energieerzeugung und -infrastruktur, Mobilität und Infrastruktur, Bauhandwerk, Baugewerbe, Bauindustrie, Immobilienwirtschaft, Forschung und Entwicklung, Wissenschaft, Rohstoffindustrie, Baustoffindustrie, Recycling, Logistik, Architekten und Ingenieurinnen, Baustellenorganisation, Digitalisierung, BIM, KI, Verbände, Kammern, Stadtsoziologie, New Work, Politik- und Sozialwissenschaftler z. B. zur Erforschung von Ungerechtigkeiten bei der Um­setzung der Transformation der Bauwirtschaft. Schaffen wir diese gigantische multidisziplinäre Zusammenarbeit? Lassen wir uns darauf ein? Sind wir kompromiss­bereit? Wenn nicht, dann versagen wir als Gesellschaft.

Die UN-Nachhaltigkeitsziele müssen gemeinsam betrachtet werden mit den Zielen des UN-Sendai-Rahmenwerks zur Katastrophenvorsorge, damit Abhängigkeiten erkannt und daraus Synergien abgeleitet werden. Es hat mich sehr gewundert, dass in einem Koalitionsvertrag von 2021 und kurz nach der Ahrtal-Katastrophe die Sendai-Ziele mit keinem Wort erwähnt werden. So, als wären die Katastrophen nachrangig ein Problem der Länder und Kommunen. Doch auch der Katastrophenschutz muss nachhaltig sein. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel beobachten wir weltweit bisher nie dagewesene Extremereignisse, die auch noch gleichzeitig auftreten. Wir haben es mit einer neuen Qualität von Krisen und Katastrophen zu tun, die sich gegenseitig beeinflussen, wie z. B. Dürre – Hunger – Wasserknappheit – Flucht. Diese Kaskadeneffekte haben wir noch gar nicht vollständig erforscht. Baulich und städtebaulich müssen wir Antworten finden, damit wir nicht Ursachen für Katastrophen schaffen, sondern die Ursachen beseitigen. Eine Frage ist auch, wie resilient unsere Städte angesichts des schnellen Wandels sind. Smarte Städte sind sehr verwundbar gegenüber Cyber-Attacken, aber nachhaltige, lebenswerte, siche­re und gesunde Städte können die Resilienz der Bevölkerung erhöhen.

Unsere Volkwirtschaften basieren immer noch auf Wachstum, obwohl das Wachstum unser eigentliches Problem ist. Schon im ersten Bericht des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums schreiben die Autorinnen und Autoren 1972: „Unser Bevölkerungs- und Produktionswachstum ist ein Wachstum zum Tode“. Und Papst Paul VI. schreibt 1971 in seinem apostolischen Schreiben Octogesima adveniens: „Infolge einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur läuft er [Anm. d. V.: der Mensch] Gefahr, sie zu zerstören und selbst Opfer dieser Zerstörung zu werden.“ Das ist 50 Jahre her. 50 vertane Jahre. Doch jetzt erreichen uns die Folgen unseres Verhaltens in Form von Naturkatastrophen, Artensterben und Ressourcenknappheit.

Die Bedeutung der Bauwirtschaft

Nun trägt die Bauwirtschaft mit bis zu 50 % zum CO2-Ausstoß und mit ca. 60 % zur Abfallproduktion bei. Es gibt darüber hinaus Rohstoffknappheit und ein Problem mit Deponien. Es werden heute bereits Ressourcen verbraucht, die die nachhaltigen Möglichkeiten der Erde um das 1,6-Fache übersteigen, aber wir konsumieren einfach weiter, als gäbe es die planetaren Grenzen nicht. Und wir erzeugen täglich Müll und Abfall, als wären sie der Humus des Wachstums.

Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Bauens übersteigt die der Automobilindustrie (gesamtwirtschaftliche Bruttowertschöpfung 2021: Bauwirtschaft 5,9 %, Automobilindustrie 4,5 % (Quelle: DeStatis)). Die Wertschöpfungskette geht vom Handwerk bis zur Forschung und erfasst nahezu jeden Lebensbereich der Menschen. Das müssen wir gegenüber der Gesellschaft und der Politik verdeutlichen, denn das ist den meisten Politikerinnen und Politikern und der Gesellschaft nicht bewusst.

Die Verantwortung der Bauwirtschaft

Wir als Bauwirtschaft sind gefordert, weil wir der Wirtschaftszweig mit dem mit Abstand größten Ressourcenverbrauch sind – ein „Weiter so“ ist nicht möglich. Im Rahmen dieser Diskussion stoßen wir auf Zielkonflikte: Betriebswirtschaftliche Zwänge stoßen auf volks­wirtschaftliche Erfordernisse und die Verantwortungsethik kollidiert mit der Gesinnungsethik. Gleichwohl hat die Bauwirtschaft eine besondere gesellschaftliche Verantwortung, die vielfach so weder von der Bauwirtschaft selbst gesehen wird noch von der Politik, der Zivilgesellschaft und erst recht nicht von den Medien.

Die Bauwirtschaft muss zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stehen

Die Transformation der Bauwirtschaft

Wie schaffen wir die digitale und ökologische Transformation der Bauwirtschaft in zehn bis 20 Jahren? Das geht nur, indem wir Klimabildung betreiben und einen systemischen Ansatz wählen, der nicht nur das Kreislaufwirtschaftsgesetz berücksichtigt, sondern konsequent von Suffizienz und dem Cradle-to-Cradle-Prinzip ausgeht; weniger in den Kreislauf bringen und Qualität erhöhen.

Dabei müssen wir die ganze Breite der Bauwirtschaft zusammenbringen: die Rohstoffgewinnung, die Baustoffindustrie, die Planenden, die Ausführenden, die Investierenden, die Betreibenden, die Recyclingindustrie und die kommunalen und staatlichen Organe. Und damit die Lösungen auch akzeptiert werden, sollten wir die Zivilgesellschaft mit einbinden und eine Klimabegeisterung erzeugen.

Kurz gesagt: Wir benötigen eine Initiative Think-Tank Zukunft Bauwirtschaft 2030. Bauen in Deutschland muss damit wieder einen weltweiten Vorbildcharakter bekommen.

Wir haben in Deutschland auf allen Ebenen, vom Handwerk bis zum Ingenieurwesen, und in allen Bereichen eine einzigartige Kompetenz, die international Beachtung findet. Unser großes Problem ist aber, dass die Bauwirtschaft sich nicht einig ist und deshalb nicht mit einer Stimme spricht. So werden wir im Kanzleramt nicht gehört und die Partikularinte­ressen einiger Gruppierungen und Verbände behindern die notwendige Transformation der Bauwirtschaft erheblich. Darauf kann unsere Mutter Erde aber nicht warten; die Schädigung von Umwelt und Klima schreitet unvermindert weiter. Wir müssen verstehen, dass die Natur immer natürlich ist, auch wenn sie uns feindlich erscheint. Und zumindest seit Leonardo da Vinci (1452–1519) formulieren wir unser Verständnis von Mutter Erde in den Naturgesetzen. Diese gelten auch für diejenigen, die sie leugnen.

Natur verstehen

Wir müssen uns der Herausforderung stellen, die UN-Ziele der Nachhaltigkeitsagenda und des Katastrophenmanagements daraufhin zu untersuchen, wo es Überschneidungen, Synergien und möglicherweise Verstärkungs- und Beschleunigungseffekte gibt, um die Ziele schneller und effizienter zu erreichen. Außerdem müssen mögliche Zielkonflikte identifiziert werden, um kontraproduktive Lösungen zu vermeiden. Ein Zielkonflikt ist das hochwasserangepasste Bauen. Nachhaltige Baustoffe sind natürliche Baumaterialien. Diese sind fast alle wasserempfindlich und können im hochwassersensiblen Bauen nicht verwendet werden. Den Konflikt hätten wir viel weniger, wenn wir in hochwassergefährdeten Gebieten nicht siedeln würden. Die natürliche Gefahr ist nicht das eigentliche Problem, sondern die Exposition; also wie wir Natur nutzen.

Übergeordnete Herausforderungen

Die regenerative Gewinnung von Strom und Wärme ist ganz entscheidend für die Erreichung der Klimaneutralität. Unabhängig davon, ob wir durch Wind, Sonne, Wasser oder Geothermie Strom und Wärme gewinnen, benötigen wir umweltschonende bauliche ­Infrastrukturen für die Erzeugung, den Transport und die Verteilung. Das sind gewaltige Infrastrukturvorhaben, die vor uns liegen. Wenn die Genehmigungsverfahren dafür, wie derzeit, ein oder zwei Jahrzehnte dauern, dann haben wir die Klimaziele schon verfehlt.

Nachhaltig bauen heißt Katastrophen vermeiden

Kritische Infrastrukturen

Betrachten wir die Interdependenzen kritischer Infrastrukturen gemäß dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), dann stellen wir fest, dass die zehn Sektoren kritischer Infrastrukturen unmittelbar mit baulichen Infrastrukturen verknüpft sind, die im Katastrophenfall ihre Leistungsfähigkeit erhalten müssen, bisher bei Kata­strophen aber regelmäßig versagen. Ihre Sicherstellung geht nur über systemische Ansätze, die Interdependenzen erkennen, und über Resilienzanalysen, die Schwachstellen und mögliche Leistungsverluste identifizieren. Systemische Analysen sollen auch zeigen, welche Parameter signifikant und welche weniger signifikant sind, damit Priorisierungen vorgenommen werden können. Nur über eine derartige Vorgehensweise können wir unsere Umwelt nachhaltig baulich gestalten. Als Lehre aus der Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021 und aus dem Krieg in der Ukraine sollten wir uns dringend Gedanken über die Resilienz kritischer Infrastrukturen machen. Und da müssen wir zunächst bei den baulichen Anlagen der kritischen Infrastrukturen anfangen und sie widerstandsfähiger bauen. Hier benötigen wir völlig neue Ansätze, wenn wir die Anforderungen an Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit gemeinsam berücksichtigen.

Der bayerische Weg

Im Mai 2021 verkündigte Ministerpräsident Markus Söder nach Bekanntgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz, dass Bayern bereits 2040 klimaneu­tral sein wolle, fünf Jahre früher als der Bund. Das begrüßten wesentliche Kammern und Verbände der bayerischen Bauwirtschaft und taten sich zu einem runden Tisch zusammen. Ihr Ziel ist eine beschleunigte digitale und ökologische Transformation der bayerischen Bauwirtschaft. Hierfür haben wir einen umfangreichen Forderungskatalog [3] erarbeitet, der am 13. September 2022 dem bayerischen Bauminister Christian Bernreiter übergeben wurde. Die einzelnen Themen wurden sechs Kernforderungen zugeordnet.

1. BIM-Methode für alle geeigneten staatlichen Bauprojekte anwenden

Die digitale Messe BAU 2021 hatte die Digitalisierung der Bauwirtschaft zum Schwerpunkt. Es wurde ein enormes Innovations- und Technologiepotenzial deutlich. Das müssen wir schneller aufbauen und nutzen. Die Digitalisierung ist eine Querschnittsaufgabe und wird als Enabler gesehen. Sie hilft nicht nur dabei, Genehmigungsverfahren und Prozesse besser und schneller zu gestalten, sondern auch beim Aufbau eines Digitalen Zwillings, der beim Planen, Bauen und Betreiben zu Effizienzsteigerungen und Einsparungen führt. Auch die (Baustellen-)Logistik kann damit optimiert werden u. v. m.

Derzeit ist weltweit die BIM-Planung noch nicht da, wo wir schnell hinmüssen. Es sollte unser Bestreben sein, dass alle Gewerke möglichst bald in und an einem Digitalen Zwilling arbeiten. Hierfür sind die technologischen und rechtlichen Rahmenbedingungen schnellstmöglich zu schaffen. Das dient nicht nur der Nachhaltigkeit, sondern auch dem Erhalt unseres Mittelstands. Es wird in Deutschland immer wieder das Narrativ bedient, dass wir bei der Digitalisierung hinterherhinken. Das stimmt nicht. Die digitalen Technologien sind global gleich und bekannt. Wir benennen nur die Probleme ehrlicher als andere. Und darin liegt eine Chance. Wer die Probleme kennt, der kann sie beheben.

Das Bundesministerium für Digitalisierung und Verkehr wird ab 2025 die BIM-Planung vorschreiben, der Hochbau wird dann sicher bald folgen.

2. Kreislaufwirtschaft voranbringen

Der Kreislauf am Bau beginnt mit den Rohstoffen. Derzeit besteht ein großes Problem darin, dass wir nicht genau wissen, welche Rohstoffe und wie viel wir davon benötigen, lokal wie global. Eine Feststellung des Rohstoffbedarfs ist dringend erforderlich. Das gilt sowohl für nicht erneuerbare Rohstoffe wie Kies, Sand, Lehm, Kalkstein, Ton, Erze oder Basalt als auch für erneuerbare Rohstoffe wie Holz, Schilf, Stroh, Hanf oder Fasern aus Pflanzen und Tierexkrementen. Auch der Ersatz von Mineralölkunststoffen durch pflanzliche Substanzen wie Löwenzahn oder Harze ist zu untersuchen. Hier müssen wir dringend von der Forschung zur industriellen Reife kommen.

Wir müssen auch ermitteln, welches Potenzial der Rohstoffgewinnung durch Recycling besteht. Inzwischen gibt es Online-Bauteilbörsen, die von der ausgebauten Klinke bis zu massiven Bauteilen alles Mögliche anbieten. Erste Häuser wurden vollständig mit ­Second­hand-Elementen errichtet. Das war auf der Expo Real Anfang Oktober 2022 in München ein Thema von vielen.

Die Rohstoffe werden zu Baustoffen und diese werden zu Bauteilen verarbeitet und miteinander verbunden. Das geschieht sowohl auf der Baustelle als auch durch Vorfertigung in Werken. Es gibt monolithische Tragwerke – ohne Verbindungsmittel –, insbesondere beim Stahlbetonbau und beim Mauerwerksbau und montierte Tragwerke, die teilweise vorgefertigt werden können und dann auf der Baustelle miteinander verbunden werden. Die Verbindungsmittel, die meist aus Stahl sind, sind wesentliche Komponenten hinsichtlich Demontage und Wiederverwendbarkeit. Müssen wir uns wegen der Rückbaufähigkeit von bestimmten Bauweisen verabschieden oder müssen wir unsere Bauwerke statt auf 50 Jahre für 100 oder mehr Jahre auslegen?

Die Vorfertigung, als Bauteile oder Module, wirkt sich auf Effizienz, Baustellenlogistik sowie auf sächliche und personelle Ressourcen auf der Baustelle aus. Ein wesentlicher neuer Aspekt ist die additive Fertigung, auch im Hinblick auf Robotereinsatz, Digitalisierung und KI. Planerinnen und Planer müssen sich auch mit degradierten bzw. adaptiven Materialien auseinandersetzen, weil wir so Material signifikant einsparen können.

Wir sehen, dass die CO2-reduzierte Herstellung von Baustoffen und Bauteilen ein großes Potenzial im Hinblick auf die digitale und ökologische Transformation hat.

Die Kreislaufwirtschaft oder besser noch das strengere Cradle-to-Cradle-Prinzip (C2C-Prinzip) müssen zur Grundlage unseres Planens werden. Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz wird ein gesetzlicher Mindestrahmen vorgegeben, der bereits eine große Schnittmenge mit dem konsequenteren C2C-Prinzip hat.

Die Vermeidung von Abfall schont Ressourcen. Leave no waste behind ist ein interdisziplinäres Projekt der EuroTeQ-Universities [4] unter Leitung der Technischen Universität München. Hier lernen Studierende anhand konkreter Projekte, welchen CO2-Fußabdruck sie im Studium oder im Beruf erzeugen und wie sie diesen CO2-Fußabdruck reduzieren können.

Mit weniger zu mehr – und das im Kreislauf!

3. Lebenszyklusbasiertes Planen einfordern

Unabhängig davon, was wir bauen wollen, ob Gebäude, Brücken, Türme, Stadien, Konzerthäuser oder Tunnel, sind intelligente Tragwerkskonzepte zu entwickeln, die Baustoffe einsparen und adaptierbar sind. Insbesondere Tragwerke, die durch stark veränderliche oder dynamische Lasten beansprucht werden, wie Türme durch Wind, Brücken durch Verkehr oder Gebäude durch Schnee und Erdbeben, werden heute passiv für Maximallasten ausgelegt, auch wenn diese nur selten auftreten. In solchen Fällen können die Tragwerke aber auch aktiv oder adaptiv ausgelegt werden, sodass veränderliche Lasten aktiv deaktiviert werden. Dadurch können bis zu 50 % Konstruktionsbaustoffe eingespart werden, wie ein Demonstrator an der Universität Stuttgart zeigt. Derartige aktive Systeme sind bereits im Erdbebeningenieurwesen im Einsatz, ebenso wie im Maschinenbau, in der Anlagentechnik und in der Luft- und Raumfahrtindustrie.

Auch bei der Errichtung baulicher Anlagen müssen Planung, Vorfertigung, additive Fertigung, Modularität, Logistik, Baustellenorganisation etc. optimiert werden im Hinblick auf die Nachhaltigkeit. Eine konsequente CO2-Bepreisung aller Vorgänge und Prozesse über den gesamten Lebenszyklus führt dazu, dass wir sehr viel nachhaltiger bauen. Und die bestehende graue Energie bekommt so einen ganz anderen Wert. Bauen im Bestand wird immer wichtiger und erfordert neue Konzepte und Verfahren über die gesamte Wertschöpfungskette.

Wir bauen Gebäude und bauliche Infrastrukturen für eine Nutzungsdauer von 50 bis zu 200 Jahren. In einer schnelllebigen Zeit kann niemand voraussagen, ob die bei der Planung vorgesehene Nutzung in 20 oder 30 Jahren noch benötigt wird. Wir benötigen deshalb mehr denn je flexible Systeme, die schnell angepasst werden können. Dafür brauchen wir einen Digitalen Zwilling des Gebäudes, der alle baurelevanten Informationen im Sinne einer Wissensdatenbank enthält und eine schnelle Umplanung und einen schnellen Umbau möglichst minimalinvasiv möglich macht. Der Digitale Zwilling ist ein wesentliches Element für ein optimales Betreiben über den gesamten Lebenszyklus.

Gebäude sollten heute nicht mehr monofunktional sein, sondern multifunktional. Dies geht, indem bspw. mit PV auf dem Dach und an der Fassade Energie erzeugt wird oder mit Dachbegrünung für Regenrückhalt, Kühlung, urban farming, urban recreation oder urban ecology versiegelte Flächen kompensiert werden. Dadurch werden Gebäude zu Erlebnisräumen, was gerade durch die Urbanisierung von unschätzbarem Wert ist.

Wir denken meines Erachtens im Rahmen einer Lebenszyklusbetrachtung zu wenig an die Bedeutung der TGA. Früher wurden Gebäude mit Elektro, Sanitär, Heizung und Telefonkabel ausgestattet – kostenmäßig weniger als 10 % der Gebäudekosten. Heute machen die TGA- und IT-Systeme oft 40 % der Gebäudekosten aus und haben einen großen Anteil am Energieverbrauch. Hier kann KI helfen, Verbräuche nutzerbasiert zu reduzieren. Auch die externen Verbräuche infolge der Nutzung von Kommunikationssystemen haben wir zu wenig auf dem Schirm. Deswegen haben wir in der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau die Initiative Klimaneutrales Büro initiiert und Vorschläge erarbeitet. Mit erklärenden Postern sensibilisieren wir uns täglich aufs Neue. Und bald schon ist CO2-Sparen normal.

Heute werden Kosten noch zu sehr auf Gestehungskosten reduziert, aber erst eine Kostenermittlung für den gesamten Lebenszyklus führt zu mehr Kostentransparenz und Kostenehrlichkeit.

4. Mit Innovationen zu Nachhaltigkeit und Marktführerschaft

Wir haben gesehen, dass im gesamten Text immer wieder Innovationen auftauchen. Sie müssen schnell zur Marktreife entwickelt werden. Dafür benötigen wir sog. Experimentierrahmen, damit wir in der Praxis zeigen, dass es geht. Damit einher geht eine neue innovationsfreudige Fehler- und Förderkultur. Wir müssen lernen, mit Fehlern umzugehen und darin neue Chancen zu erkennen. Ein wichtiger Schritt ist die Einführung einer Gebäudeklasse E. Sie steht für einfach und experimentell. Reallabore sollten vom Staat durchgeführt oder gefördert werden. So verbinden wir Nachhaltigkeit mit Innovationen, setzen sie in der Praxis um und gelangen so zur Marktführerschaft.

Bauordnungen und Normen behindern die notwendige Transformation erheblich. Wir benötigen sofort einen Rechtsrahmen, der die Transformation rechtssicher macht.

Eine ökologische Marktwirtschaft benötigt eine konsequente CO2-Bepreisung, damit es marktregulierend zu positiven Veränderungen kommt. Hierdurch werden z. B. neue Technologien initiiert, die große Chancen am Markt ermöglichen und zu einem Exportschlager werden können. Viel zu viele Unternehmen sehen die Chancen der Transformation (noch) nicht.

Innovationsfreude verschafft Markt­vorteile

5. Klimaangepasste Städte und Siedlungen fördern

Wir haben bereits gesehen, dass die Nachhaltigkeit gemeinsam mit dem Katastrophenschutz betrachtet werden muss. Es leben bereits mehr als 50 % der Bevölkerung in Städten. Die dadurch entstandene Versiegelung führt bei Starkregen immer häufiger zu Sturzfluten. Gleichzeitig verdorren städtische Bepflanzungen und die urbanen Räume heizen sich auf. Sowohl Sturzfluten als auch die Hitze haben Tote zur Folge. Wir müssen die Städte also umbauen und anders bauen. Damit wir die Versiegelung so gering wie möglich halten, muss die Innenentwicklung Vorrang haben vor der Außenentwicklung. Und wir benötigen ein Kataster von Gebäuden mit Umnutzungs- und Entwicklungspotenzial.

Ein systemischer Ansatz für die Stadtplanung schließt Raum- und Landesplanung, Flächennutzung, Wasserwirtschaft, Landschaftsarchitektur, urbane Ökologie, Mobilität, Landwirtschaft und Fortwirtschaft mit ein. Wir benötigen mehr grüne und blaue Infrastruktur. Eine Schwammstadt dient dem Regenrückhalt, kühlt die Städte um bis zu 10 °C, ermöglicht eine natürliche Kühlung von Wohnungen und Büros, ermöglicht urban farming, ist ein Beitrag zu Biodiversität u. v. m.

Die Coronapandemie lehrt uns, dass wir neue Fragen beantworten müssen, die sich z. B. aus dem mobilen Arbeiten ergeben. Wir erkennen neue Anforderungen an unser Wohnen und Arbeiten, an die Gestaltung urbaner Räume, an die Mobilität, die Digitalisierung, unser Zusammenleben oder durch Einsamkeit.

Gerade in den Städten müssen wir unser Mobilitätsverhalten überdenken. Verkehrspsychologen machen immer wieder deutlich, dass wir nur aus Gewohnheit unser Auto auch dann nutzen, wenn es objektiv nicht sinnvoll ist.

Die Herausforderung besteht nun darin, Wege zu finden, unsere Städte nachhaltiger, lebenswerter, widerstandsfähiger und resilienter zu machen. Menschen prägen Städte – Städte prägen Menschen lautet ein Motto der Bundesstiftung Baukultur. Man könnte auch sagen: Menschen prägen Umwelt – Umwelt prägt Menschen. Daraus können wir die Frage ableiten, ob wir im Einklang mit der Natur leben. Wäre das so, dann gäbe es die meisten Naturkatastrophen nicht. Die Gesellschaft wäre resilienter und wir würden deutlich weniger konsumieren.

Schaffen wir gemeinsam eine enkel­taugliche Zukunft

6. Klimabegeisterung durch Bildung erzeugen

Bei den Diskussionen in den Arbeitsgruppen des runden Tischs Beschleunigte digitale und ökologische Transformation der Bauwirtschaft haben wir eine Klimabegeisterung erlebt. Diese müssen wir weitertragen – in die Kammern, Verbände, Mitgliedsunternehmen, Schulen, Hochschulen und Volkshochschulen. Dem haben nicht nur wir uns verpflichtet, sondern auch die Bundesstiftung Baukultur und die Bundesstiftung Bauakademie. So schaffen wir gemeinsam eine enkeltaugliche Zukunft.

Schluss

Charles Darwin sagte vor etwa 200 Jahren: „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.“ Staatsminister Christian Bernreiter hat am 13. September 2022 das Ziel ausgegeben: „Gemeinsam wollen wir Bayern zum Marktführer digitalen und ökologischen Bauens machen.“


Literatur

  1. BMZ [Hrsg.] Sendai-Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge 2015–2030 [online]. Berlin: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
    https://www.bmz.de/de/service/lexikon/91378-91378
  2. EP [Hrsg.] Grüner Deal: Schlüssel zu einer klimaneutralen und nachhaltigen EU [online]. Brüssel: Europäisches Parlament. https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/priorities/klimawandel/20200618STO81513/gruner-deal-schlussel-zu-einer-
    klimaneutralen-und-nachhaltigen-eu
  3. Bayerische Ingenieurekammer-Bau [Hrsg.] Sustainable Bavaria: Bayerische Baubranche legt Vorschläge für ein klimaneutrales Bayern vor [online]. München: Bayerische Ingenieurekammer-Bau. www.bayika.de/de/aktuelles/meldungen/2022-09-13_Bayerische-Baubranche-legt-Vorschlaege-fuer-ein-klimaneutrales-Bayern-vor.php
  4. TUM [Hrsg.] Euro TeQ Engineering University [online]. München: Technische Universität München. https://www.international.tum.de/global/euroteq

Prof. Dr.-Ing. Norbert Gebbeken,
norbert.gebbeken@unibw.de
Präsident der Bayerischen Ingenieure­kammer-Bau, München
www.bayika.de

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